dreizehn

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Die Erklärung ist simpel: Bücher.
Fast schon zu einfach, oder nicht? Und trotzdem ist man durchweg am Grübeln und Überlegen, wie es sein kann, dass diese ganzen Universen existieren. Oder allein schon das Aufheben der Naturgewalten. Wie soll ein ganzes Universum unter einer Holzdiele Platz finden? Durch Bücher.
Das ganze musst Du Dir ungefähr so wie in der Mathematik vorstellen - Mathematik in den letzten zwei Schuljahren. Du bist darauf trainiert, alles zu hinterfragen und die Lösung kann nicht einfach so offensichtlich auf der Hand liegen, nein, die Lösung muss kompliziert sein. Und wenn dann in der Aufgabe steht: was ist 2*2?, kann die Lösung nicht 4 sein. Da ist doch irgendein Haken bei, den man jetzt nicht direkt erkennt.
Es ist nicht so.
Die Lösung ist offensichtlich und einfach.
Das ganze Mysterium geht auf Bücher zurück. Auf Papier, Tinte, Leder, Leim, Sätze, Worte. Buchstaben. Es ist einfach, mein Freund...

"Also entsprechen die Restwelten einer riesigen Bibliothek." Frost saß neben dem Professor auf der Wendeltreppe und ließ ebenfalls die Beine baumeln. Der Professor murrte zustimmend. Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. Was ein Wahnsinn. Zumindest würde das bedeuten, dass Michael Ende mit seiner Unendlichen Geschichte der Wahrheit recht nahe kam. Selbst wenn nicht, das hier war das Bedeutendste, was die Welt jemals zustande bringen würde, dessen war Frost sich sicher. Und doch würde es nicht für immer währen, dem Rabenmann zufolge. "Warum zerfällt sie?", flüsterte Frost und starrte in die Tiefe. Sie wollte die Antwort nicht wissen, wollte keine Gewissheit haben, dass immer irgendwo ein Ende stehen musste und doch hatte sie die Frage gestellt. Lange Zeit schwieg der Mann neben ihr, sodass sie weiter in die Tiefe starrte und mit den Zehen wackelte.
Wie viele Geschichten wohl dort unten warteten?
Nicht nur dort unten, sondern auch über ihr; schließlich konnte sie kein Ende der Wendeltreppe ausmachen. Und der Rest dieser riesigen Bibliothek war verschlungen wie ein Labyrinth. Schwer vorzustellen, dass eine solche Institution in naher Zukunft nicht mehr existieren sollte.

Institutionen sind nicht für die Unendlichkeit gemacht.
So sehr die Menschen das auch glauben wollen, jede Institution arbeitet auf ihr Ende zu - sie sind dem Menschen sehr viel ähnlicher, als Du vielleicht glauben magst.
Versuche, Dir einmal vorzustellen, wie es in den Restwelten ist. Wie Du die Stille empfinden würdest, wie die Bücher auf Dich einwirken würden, wie Du Dich inmitten dieses allumfassenden Raumes fühlen würdest. Schließe die Augen, wage es, Dich dort hin zu träumen. Atme die Luft voller Bücherstaub und lausche auf das Flüstern der Buchstaben. Und jetzt stell' Dir vor, all diese Dinge seien nicht mehr da. Du stündest zwischen Ruinen, Schutt und Asche. Sähest Welten zu Staub zerfallen. Was fühlst Du?
Die Restwelten sind ein wundervoller Ort. Aber wie der Professor Frost gegenüber schon mehrmals erklärte: Zum aktuellen Zeitpunkt sind sie dabei, zu zerfallen.

Die Schritte hallten über das alte Holz der Treppe. Mit jedem Schritt schien das Holz immer ein Stück weit nachzugeben um den Läufer anschließend hochzudrücken, ihn im Laufen anzuspornen. Die restliche Stille drückte weiterhin auf die Ohren. Schritt um Schritt erklommen sie die Treppe, der Professor voran, Frost mit ein paar Stufen Verzögerung hinter ihm her. Blicke wanderten über die vielen Buchrücken, Finger trauten sich kaum hin und wieder hinüber zu streichen und den Staub alter Zeiten hinfort zu wischen. Der Atem hing in der Luft und schien immer dichter zu werden, weiße, klare Dampfböen, die sich bald auflösten. Schritt um Schritt knarzte die Treppe. Ähnlich wie jene im Cottage. Hatte Emelee bereits gemerkt, dass sie nicht mehr dort war? Suchte sie eventuell nach ihr? Oder wusste sie von dem Universum unter den Dielen ihres Dachbodens?
So viele Fragen, erneut keine Antworten. Denn der Professor schien, als hätte man ihm die Tonspur geklaut und gebe sie ihm nur hin und wieder zurück, damit er missmutig vor sich hin murmeln konnte.
Auch verstand sie immer noch nicht, wie sie auf die Treppe gelangt war. Oder was dort geschehen war - erst der Rabe, dann der Professor in einem Wimpernschlag. Hatte sie sich den Vogel eventuell nur eingebildet? Es wäre immerhin nichts Neues und somit etwas, mit dem sie umzugehen wüsste. Doch etwas in ihr raunte ihr zu, dass dem nicht so war.
So schritten sie schweigend weiter die Treppe hinauf. Frost bemerkte den feinen Hauch der Eisblumen nicht, den ihre Finger hin und wieder auf den Regalbrettern hinterließen.
Je höher sie stiegen, desto kälter wurde die Luft um sie. Der Wind pfiff lauter und der Staub ließ sich mitreißen, hin und her schleudern, nicht gewillt, zur Ruhe zu kommen.
Sie passierten zu Teilen verfallene Stufen ebenso wie in sich zusammengestürzte Regalböden, die Bücher unter sich begruben. Als fräße sich der Untergang von oben nach unten und der wehende Staub bezwecke nichts anderes, jedem Betrachter die Sicht zu erschweren. Das Ausmaß der Zerstörung zu verharmlosen.
Es gelang nicht. Denn so sehr der Staub sich auch auf die Sicht legte, waren dort immer noch die Geräusche. Diese zunehmende Geräuschkulisse proportional zum Zerfall.
Waren die Restwelten still, weil sie alle Welten in einem waren, wurden sie lärmend, sobald sie zu Bruchstücken zerfielen.
"Glaubst du mir jetzt!", trieb der Wind ein Brüllen in Frosts Ohren. Das Mädchen stand mittig auf der Stufe, drückte die nackten Zehen in das knorrige Holz und krallte die Finger in den Saum des seines karierten Kleides. Währenddessen der Wind an den roten Strähnen zerrte, die sich aus dem Knoten gelöst hatten. Gänsehaut auf den Armen. Eisblumen auf dem Kleid.
In einiger Entfernung, durch den Staub schwer zu erkennen, ein schwarzer Schatten. Von ihm war die Frage an ihre Ohren gelangt. Der Professor schritt auf sie zu, seine Konturen weiterhin undeutlich: "Glaubst du mir nun, dass etwas geschehen muss?" Der Wind wandelte sich von Pfeifen in Heulen, zerrte somit jeden Ruf in ein Brüllen.
"Glaubst du mir jetzt!"

Träumen fällt schwer, wenn man weiß, dass man nichts ändern wird, egal wie sehr man für diesen Traum einsteht. Auch die Einstellung da trägt nicht viel zu bei, dass wusste er sicher. Würde die Einstellung etwas ändern, brächte er die Nächte nicht damit zu, zwischen Bücherleichen zu liegen und durch die eingestürzten Teile des Daches den Nachthimmel beobachten. Dann würde er nicht auf verlorenem Posten kämpfen und wenn doch, nicht alleine. Würde die Einstellung etwas an dieser spezifischen Situation ändern, würde er nicht alleine versuchen, diejenigen Bücher zu retten, die noch nicht zu Opfern von Wind und Wetter wurden. Er würde endlich wissen, wonach genau er Tag für Tag die verbliebenen Regale und Stapel durchsuchte, würde endlich wissen, wofür er das hier tat - würde die Einstellung etwas an der Situation ändern. Das tat sie nicht.
Träumen fiel ihm schwer, wenn er so in die Weiten des Nachthimmels schaute und sich fragte, wie viele Universen es wohl gab. Ob in irgendeinem anderen dasselbe passierte wie hier in der Bibliothek auf dem Hügel. Oder eher der Ruine auf dem Hügel. Denn wenn er ehrlich war, war die Bibliothek nur noch das: eine Ruine. Halb zerfallen und nur noch darauf wartend, dass auch der letzte Grundstein in sich zerbröselte und er als ihr Wächter verschwand.
An Abenden wie diesem wünschte er sich, dass Dandel auftauchte und ihm sagte, dass all das hier sinnfrei sei, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
In Nächten wie dieser wusste er nicht mehr, warum er überhaupt noch hier war.
Und Dandel tauchte nie auf.

FrostWo Geschichten leben. Entdecke jetzt