zwölf

206 43 4
                                    

Adalines Atem stand in der Luft. Zumindest so, dass sie ihn als weißen Dampf wahrnehmen konnte, denn wirklich stehen tat er nicht. Ein eisiger Windzug rauschte die Treppe entlang, zerrte dem Mädchen an Haar und Kleid, schleuderte ihren Atem fort. Ihre Zehen drückten sich gegen das knorrige Holz aus welchem die Stufen geschlagen worden waren, die Arme hatte sie weit von sich gestreckt. Der Wind rauschte, ansonsten gab es keine Laute. Weder das Rascheln von Seiten, noch das Flüstern von Buchstaben. Selbst wenn es diese gab, so riss der Wind sie mit fort. Vielleicht gab es an einem Ort wie diesem auch einfach keine Laute mehr. Vielleicht bildete sie sich das Rauschen des Windes nur ein und vielleicht täuschte ihr Hirn ihr auch nur vor, dass ihr herz laut schlug, das Blut in ihren Ohren knisterte und ihr Atem durch die Kehle rasselte, weil diese Geräusche zum Leben dazu gehörten. Und wären sie mit einem Mal nicht mehr dort, wie konnte sie sich da noch sicher sein, dass sie noch lebte?
Antworten. Antworten wollte sie, auf all ihre Fragen, doch Antworten gab es keine. Es wäre zu einfach, würde es Antworten auf Fragen geben. War dies nicht auch eine Antwort? Eine Antwort, mit der man sich zufrieden geben musste, wenn man nicht verzweifeln wollte an der Ratlosigkeit der eigenen Welt.
Doch war sie nicht mehr in ihrer eigenen Welt. Diese hatte sie verlassen, als der Professor ihr eine Welt unter dem Fußboden, auf dem sie stand, zeigte. Auch in dieser Welt war sie nicht mehr. Hatte sie so überraschend verlassen, wie der Professor in der ihren aufgetaucht war, nun war sie hier: Auf einer schmalen Wendeltreppe, die nach oben und nach unten führte, an den Wänden Bücher tragend und alles in ein trübes Dämmerlicht getaucht. Wie sie da stand, hatte sie das Gefühl, sich selbst zu verlieren. Oder sich bereits verloren zu haben. Wie eine Marionette ihrer Autonomität beraubt und als reichte ein Schritt, um diese wieder zu erlangen. Herumgeschleudert zwischen Welten, von einem Ort zum nächsten, dem Fadenzieher ohne Gegenwehr geliefert. Ein Schritt nach vorne würde reichen, dann würde sie wieder hören. Hätte ihren Herzschlag zurück, das Knistern ihres Blutes und das Rasseln des Atems in der Kehle. Ein Schritt, dann würden die Bücher wieder anfangen zu wispern und zu flüstern. Geschichten erzählen und düstere Gestalten zum Leben erwecken. Tinte würde wieder riechen und sich mit Papier und Leder und Leim vermischen. Leben würde sich wieder lebendig anfühlen. Nicht so starr und geräuschlos.

Über ihr flatterte etwas. Es klang wie Flügelschlagen und Adaline Frost öffnete die Augen. An der gegenüberliegenden Wand hatte auf der Treppe ein Rabe Platz genommen und blickte zu ihr herüber. Ein schöner Vogel mit rußschwarzem Gefieder und Augen wie Kohlen. „Diese Welt ist still, habe ich recht?", wisperte eine Stimme aus dem Nichts. Irritiert ließ das Mädchen die Arme sinken. Was ein seltsamer Ort. Der Rabe sah sie immer noch an. „Weißt du, warum diese Welt so still ist?", wisperte die Stimme erneut. Frost schüttelte den Kopf. „Entschuldige meine Manieren." Der Rabe blinzelte. An seiner Stelle saß der Professor und ließ die Beine über dem Abgrund baumeln. Frost setzte an, etwas zu sagen, öffnete den Mund und stockte. Der Professor hob einen Finger an die Lippen: „Diese Welt ist so still, denn sie ist alle Welten in einem."

FrostWo Geschichten leben. Entdecke jetzt