OneShots

Ekel

Sie sah sich im Spiegel an, betrachtete die Tränen, die stumm über ihre Wangen rannen. Blass war sie, erschöpft, dunkelblaue Ringe zierten ihre Augen. Die Lippen stachen weiß wie die Wand hervor. Mit jedem Zentimeter Haut, den sie im Spiegel betrachtete, kamen Erinnerungen zurück.
Sie spürte förmlich, wie seine Hände sie berührt hatten. Sie fühlte wieder den warmen Atem in ihrem Nacken, der ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie hatte sich weggedreht, er hatte es ignoriert, er hatte einfach weiter gemacht, sie weiter berührt. An Orten, an denen er sie nicht hatte berühren sollen. Und auch wenn es jetzt nur die Erinnerungen waren, es fühlte sich an, als würde es erneut geschehen.
Sie fühlte sich auch jetzt, Jahre später, noch benutzt. Hasste ihn für das, was er getan hatte. Hasste sich selbst für das, was sie war. Hasste ihren Körper, der ihr immer und immer wieder zeigte, dass sie machtlos ihm gegenüber war.
Am liebsten hätte sie ihn nun in den Griff genommen, hätte ihm gezeigt, dass sie die Oberhand hatte, dass sie die Entscheidungen traf.
Es wären nur wenige Schritte - einmal in die Küche an die Schublade. Dort hatte sie genug Gegenstände, mit denen sie es ihrem Körper hätte zeigen können. Sie wollte ihn bluten lassen für alles, was er mit ihr tat. Für alle Schmerzen, allen Ekel und alle Wut, die sie regelmäßig begleiteten.
Doch wusste sie auch, sie würde sich damit nur selbst betrügen und belügen. Mit jedem Schnitt in ihre Haut würde sie wieder einen Schritt zurück gehen, die Kontrolle auf der Ebene des Körpers zwar in die Hand nehmen, aber auf einer anderen Ebene abgeben.
Mit einem Handtuch im den Oberkörper ließ sie sich an die Heizung gelehnt auf den Boden sinken.
Tränen rannen ihre Wangen hinab und tropfen auf ihre Hand. Sie löschten den Druck zu schneiden nicht endgültig, aber sie nahmen ihn ein wenig in den Griff und ließen sie wieder klar denken.