Kapitel 16 | Der Sohn, den ich nie hatte

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Ich konnte meine Augen nicht von dem Sarg und dem Artefakt abwenden.
Zwei Monate Koma.
Ein Tag mit Elun, einem achtzehnjährigen Druiden und einem Elf, der wie ein Sohn für mich war.
Wieso erlaubte mir die Sonnengöttin nur einen Tag mit ihm?
"Folgen wir den Druiden.", beschloss Trentox und unsere gesamte Gruppe folgte der Prozession.
Die anderen waren erleichtert über mein Erwachen, doch gleichzeitig spürten wir alle diesselbe Trauer.
Auch wenn ich wahrscheinlich die Einzigste war, die Elun als Sohn gesehen hatte.
Die Druiden gingen langsam, die Blicke gesenkt, leise ein Lied über ihre Lippen gleitend.
Da jeder das Lied auf seiner Muttersprache sang, entstand ein Kanon, fallend und steigend wie Wellen in einem Sturm.
Die Prozession kam bei Dalarans Friedhof an.
Ein Loch war bereits gegraben worden, in das die vier Druiden den Sarg langsam gleiten ließen.
Malfurion nahm das Artefakt und die Erde wurde über den Sarg geschüttet und sanft festgeklopft.
Dann trat eine sehr junge darnassische Druidin hervor und legte ein kleines Glaskästchen auf das Grab.
In dem Kästchen lagen eine feuerrote Feder, eine rote Kralle, ein Halsband und ein Schmuckstück aus Smaragd.
Der Beweis, dass es wirklich Elun war.
Ich fiel auf die Knie.
Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Mein kleiner Elun war einfach tot.
Mein kleiner schwarzer Sonnenschein.
Ich verpasste Malfurions Rede, denn ich war mit meinen Gedanken bei Elun und ich verglich meine zehntausend Lebensjahre mit Eluns achtzehn.
Er war viel zu früh gestorben.
Sein Leben war so kurz gewesen.
War er zufrieden mit seinen achtzehn Jahren gewesen?
Wohl kaum.
Wie könnte er?
"Dóragon..." Senajin kniete sich neben mich. "Hey?"
Ich rieb mir über die Augen und sah zu ihr.
Die Druiden bis auf Malfurion waren weg.
Ich stand auf und trat näher an das Grab.
Ich wusste, dass Elun ein schwarzer Halbdrache gewesen war, genau wie ich.
Ein Ritual des Respektes der Schwarzdrachen wäre hier angebracht.
Ich stand genau vor Eluns Grab.
"Es tut mir leid, dass ich unser Ritual nicht mit mir selbst ausführen kann, Elun.", sagte ich auf der Alten Sprache der Drachen.
Dann kniete ich mich vor sein Grab und legte zwei Hände auf den Boden.
Ich schuf erst einmal Obsidian unter meinen Händen - denn Schwarzdrachen wurden auch Obsidiandrachen genannt - und daraus schuf ich eine kleine Version eines Drachen mit gespreizten Flügeln mit Rubinen als Augen.
Ich nahm die Figur und stellte sie auf das Glaskästchen. "Für dich, mein kleiner schwarzer Sonnenschein.", murmelte ich mit neuen Tränen in den Augen.
Trentox kam zu mir und legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter.
Ich genoss die Wärme seiner Hand und stand wieder auf.
Daraufhin umarmte er mich und strich mir sanft über den Kopf, leise ein Lied über das Licht singend.
Es handelte von der Wärme, der Liebe des Lichtes und den Seelen, die dort waren.
Mühelos dichtete Trentox eine Strophe über Elun, der ebenfalls dort war, umgeben von warmen Licht.
Diese Strophe tröstete mich ein wenig.
Ich schaffte es, zu lächeln.
Trentox hörte auf zu singen und ließ mich los. "Geht es dir jetzt besser?", fragte er mich leise.
Ich nickte und sah zu den anderen.
Shikura starrte mich mit einem seltsamen Blick an.
Ich runzelte verwirrt die Stirn. "Ist irgendwas, Shikura?"
Trentox sah ebenfalls zu ihr.
Dann lachte er. "Keine Sorge, Dóragon. Wir haben erst neulich festgestellt, dass wir Verbundene sind." Er ging zu Shikura und wuschelte ihr durch die Haare. "Eine Umarmung ist aber noch lange kein Grund, eifersüchtig zu sein."
"Ich bin nicht eifersüchtig.", murrte Shikura und legte ihren Kopf schief, als Trentox' Hand über ihre Wange strich.
"Nein, überhaupt nicht.", meinte Aran ironisch und wandte sich Senajin zu. "Wollen wir die Turteltäubchen mal allein lassen und auf die Gruppe aus Suramar warten?"
"Gerne." Senajin folgte ihm Richtung Krasus' Landeplatz.
"Was für Turteltäubchen?", fragte Trentox amüsiert und drückte Shiluras Hände kurz.
"Euch zwei.", sagte ich leise. "Ich gehe noch ein bisschen herum, wenn es euch recht ist."
"Spring ja nicht von Dalaran runter.", warnte mich Trentox. "Wer weiß, was dann passiert."
"Ja, ja." Ich lächelte. "Bis später."
"Bis später." Shikura winkte mir zu und ich wandte mich ab, um mit meinen Gedanken zu dem Sohn zurückzukehren, den ich nie gehabt hatte.

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