Kapitel 1

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Langsam schloss er seine Augen und konzentrierte sich auf sein Inneres. Der Wind blies durch die offenen Fenster des alten Motels und lies den morschen Holzboden knarren. Xander saß im Schneidersitz auf dem verstaubten Bett. Das Motel beherbergte kaum mehr Gäste, was man bereits an der mangelnden Sauberkeit der Zimmer bemerkte. Der Besitzer gab sich keine große Mühe mehr, die Zimmer auf Vordermann zu halten. Doch für Xander reichte es. Er brauchte einfach nur einen Raum zur Erholung, zur Regeneration. Ihm wurde viel über seine Gabe, oder wie er es gerne nannte - Fluch, gelernt. Er erinnerte sich an sein erstes Mal und wie ängstlich er war. Nicht zu wissen, was mit einem passiert. Wieder kam dieses Gefühl hoch, diese Unsicherheit. Mit zitternden Händen strich er sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Seine Stirn fühlte sich heiß an. So war es jedes Mal, nach seiner Verwandlung. Oft wünschte er sich normal zu sein, ein Mensch. Jedoch er war anders. Ganz anders. Er kannte bereits viele von seiner „Art". Die meisten hatten keine Probleme mit dem was sie waren oder vorgaben zu sein. Sie waren Seelenwanderer oder Scheinwesen, genau wie er. Sie waren Seelen, immer auf der Suche nach einem toten Körper oder auch Leihkörper genannt, mit dem sie für Menschliche normal waren. Zudem immer auf der Flucht vor ihren Feinden. Viele Körper hatte er bis jetzt noch nicht und dies war nun sein dritter. Ein Junge aus Chicago der an einer Überdosis an Drogen starb. Der Körper war übersät von Einstichstellen der Injektionsnadeln. Die ein oder andere Stelle war bereits entzündet, woraufhin Xander sich Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial an einer Tankstelle mitnahm. ''Wird schon wieder...'', flüsterte er zu sich selbst. Einer der ältesten Seelenwanderer die Xander kannte, hatte bereits über 200 Leihkörper. Man könnte glauben sie wären unsterblich, aber das waren sie nicht. Jedes Wesen konnte man umbringen. Keiner verdiente es unsterblich zu sein, nicht einmal die, die schon längst tot waren und sich trotzdem noch "lebendig" auf dieser Welt aufhielten. Xander atmete noch einmal tief ein und aus, danach öffnete er seine Augen. Es war bereits dunkel geworden und das Licht einer Straßenlaterne leuchtete den Boden des Zimmers aus. Sein Blick fiel auf das Telefon neben ihm, das der Leihkörper bei sich hatte. Xander nahm es neugierig in die Hand und versuchte es zu entsperren. ''Verdammt!'', fluchte er plötzlich. Dreimal falscher Pin. Schnaufend lies er sich im Bett zurückfallen, woraufhin sämtlicher Staub in die Luft flog. Er schloss seine Augen und schlief einige Zeit später ein.

"Wenn man also davon ausgeht, dass man mit dieser einfachen Theorie - Miss Johnson, was machen kann?" Der Professor starrte sie ernst an. Cassidy hatte kein bisschen mitbekommen um was es momentan in diesem Vortrag ging. Vielleicht hätte sie sich lieber nicht dafür entscheiden sollen, Naturwissenschaften zu studieren. Auf der einen Seite war es das einzige was sie jemals wirklich interessiert hatte, doch auf der anderen Seite war es dennoch oft öde und langweilig. Genau wie heute. Während Cassidy konzentriert nach einer Antwort suchte, zu einer Frage die sie nicht einmal gehört hatte, wartete der Professor noch immer, mit strengem Blick auf sie gerichtet. Nervös wickelte sie eine braune Strähne um ihren Finger. „Miss Johnson, ich denke Sie sollten sich lieber zusammenreißen. Ihre letzte Prüfung war ein Desaster und Sie können es sich gerade am wenigsten leisten, nicht in meinem Vortrag aufzupassen." Sein graues Haar, das er sich streng nach hinten gekämmt hatte, ließ ihn noch ernster aussehen. Cassidy nickte kurz und gab ihm ein schüchternes Lächeln. Er jedoch schüttelte darauf nur den Kopf und wandte sich wieder seinem Thema zu. Sie merkte, dass ihr einige im Saal schräge Blicke zuwarfen und ebenfalls ihre Köpfe schüttelten. Nur ihre Freundin Tara, die neben ihr saß, starrte ruhig auf ihren Block, der kaum beschriftet war. Lange dauerte es nicht bis der Vortrag zu Ende war, die Glocke läutete und Cassidy somit ihre Sachen einpackte um schnell aus dem Saal zu verschwinden.

Ihre kleine Wohnung befand sich in den hintersten Gassen von Chicago. Das Gebäude war etwas älter und wirkte düster. Leider hatte Cassidy nicht mehr Geld für ein schöneres Zuhause und sie konnte sich die Miete ihrer jetzigen Wohnung kaum noch leisten. Ihr Nebenjob in einer Buchhandlung half ihr gerade noch über die Runden und sie war auf jeden Cent angewiesen. Unter ihr wohnte eine 4-köpfige mexikanische Familie, die jeden Tag um punkt zwölf Uhr eine Siesta hielt. Stören durfte man sie dabei auf keinen Fall, sonst machte man sie sich sofort zu Feinden. Cassidy hatte diesen Fehler einmal begangen und wird seitdem nur noch von ihnen verachtet. Selbst als sie ihnen zur Versöhnung einen Wein hinunter brachte, schmissen sie ihr die Tür vor der Nase zu. Gegenüber von Cassidy wohnte Marc, ein gutaussehender Kellner, der seinen Traum als Musiker noch immer verfolgt, obwohl ihn hunderte Agenturen abgewiesen hatten. Marc war außerdem einer von Cassidys besten Freunden und ohne ihn wäre sie schon längst wieder aus diesem Drecksloch, so wie sie es immer nannte, geflüchtet. Er war abends oft in verschiedenen Bars um dort mit seiner Gitarre aufzutreten. Die Leute fanden ihn auch richtig gut. Nur war er für die „große" Musikkarriere nicht der Richtige, da er weder aussah wie Justin Bieber, noch tanzte wie Michael Jackson. Cassidy wusste nicht was die heutige Musikbranche so toll fand an einem Jungen, der sang wie ein Mädchen und seine Lieder selten selbst schrieb. Marc war in vieler Hinsicht, zumindest für sie, ein richtiger Künstler und Musiker. Er hatte dieses Gefühl in seinen Fingern, wenn er auf seiner Gitarre spielte. Cassidy liebte es ihm zuzusehen und seine Stimme zu hören. Verliebt war sie nicht und wenn, dann aber nur in seine Stimme. Für sie war er eher wie ein Bruder und oft dachte Cassidy darüber nach ob er wohl das gleiche fühlen würde, oder vielleicht sogar mehr? In Gedanken versunken öffnete Cassidy ihre Wohnungstür und warf den Schlüssel in eine Schüssel neben der Tür. Sie legte ihre Tasche ab, saß sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. In den Nachrichten berichteten sie von einem 20-jährigen Jungen namens Caleb Twist, der an einer Überdosis an Drogen starb. Er war in die Pathologie des Northwestern Memorial Hospital gebracht worden, woraufhin der Leichnam kurze Zeit später spurlos verschwand. Der Pressesprecher der Polizei ließ die Bevölkerung wissen, dass sie keine weiteren Untersuchungen mehr durchführen werden, da es sich um einen obdachlosen Drogenjunkie ohne Familie handelte und es sich nett ausgedrückt, nicht lohnen würde noch nach dem Leichnam zu suchen. Cassidy blickte auf den Bildschirm, der nun ein Foto des Jungen zeigte. Er hatte schwarzes Haar, ein schmales Gesicht und markante Gesichtszüge. Kurz kam er Cassidy wie ein Krimineller vor. Doch dann merkte sie die Trauer an seinem Blick. Als die Nachrichtensprecher anfingen zu diskutieren warum man die Untersuchungen einstellte, hielt Cassidy es nicht mehr aus und schaltete den Fernseher aus. Er war tot, dachte sie sich. Was machte es jetzt noch für einen Sinn darüber zu reden? Schließlich fragte sich auch keiner mehr wie ihre Mutter starb, nachdem sie von der Arbeit nicht mehr nach Hause kam. Jeder behauptete es wäre ein Herzinfarkt gewesen, nachdem sie den Leichnam am Parkplatz einer Tankstelle fanden, aber Cassidy wusste es besser. Jemand hatte ihre Mutter ermordet und dies wollte damals keiner einsehen. Und um diesen obdachlosen Mann machten sie einen großen Wirbel. Er war TOT! Nichts konnte ihn zurückholen! Cassidy schüttelte den Kopf und warf sich in ihr Bett. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer und fiel schließlich auf ihre Uhr. Es war kurz vor halb eins. Um zwei begann ihre Schicht im Bücherladen. Cassidy streckte sich und schloss ihre Augen. Eigentlich wollte sie sich nur ein bisschen ausruhen, fiel dann aber in den Schlaf.

"Cassidy!" Wieder dieser Traum. Ständig rief jemand ihren Namen, aber sie war alleine. Alleine in der Dunkelheit. Dann wieder dieser tote Körper vor ihr. Sie wusste was jetzt kam, schließlich träumte sie fast jede Nacht das selbe. Sie beugte sich hinunter, versuchte die Leiche umzudrehen, aber sie konnte nicht. Cassidy besaß weder Arme noch Beine. Sie schwebte! Angestrengt versuchte sie zu erkennen wessen lebloser Körper vor ihr lag. Und sie erschrak jedesmal, wenn sie das kleine Tattoo an der Hand der Leiche sah. Eine kleine Sonnenblume. "Cassidy!" Wieder diese Stimme. Man konnte an ihr nicht zwischen männlich und weiblich unterscheiden. Diese Stimme war übernatürlich. Cassidy starrte ihre Leiche an und verstand nicht was hier vor sich ging. Wenn ihr Körper vor ihr am Boden lag, was war dann sie? Sie sah sich um und erkannte sich in einer Gasse wieder. Endlich konnte sie sich etwas orientieren und wusste circa wo sie sich befand. Diesmal war ihr Traum anders. Diesmal rannte jemand auf sie zu. Dieser jemand schrie ihren Namen!

"Cassidy!" Marc rüttelte sie unsaft. Langsam öffnete sie ihre Augen und bemerkte Marc, der sie besorgt ansah. "Was ist los?", fragte sie ihn verschlafen. "Mein Gott Cassidy! Was ist mit dir los?" Marc war völlig außer Atem. Er starrte sie an, kreidebleich im Gesicht. Cassidy sah auf die Uhr. Es war elf Uhr morgens. "Verdammt! Mein Vortrag!", schrie sie und sprang auf. Marc beobachtete, als sie sich schnell umzog und im Bad fertigmachte. "Cassidy!", schrie er währenddessen immer wieder, aber sie ignorierte ihn. "Verdammt Cassidy! Du hast 3 Tage geschlafen!", platzte er heraus. Erschrocken drehte sich sich um zu ihm. Ihre Kehle schnürrte sich zu und sie rang nach Luft. In ihr stieg Panik auf. Ihr Studium konnte sie nun vergessen und ihr Chef im Buchladen hatte bestimmt schon jemand Neues eingestellt. Marc sah sie nun besorgt an, "Alles klar bei dir?". Darauf hatte sie keine Antwort. Ihr stummes Nicken verriet alles. Um einer unangenehmen Diskussion aus dem Weg zu gehen, ging sie ins Bad und schloss sich kurzerhand ein. Marc sah ihr nach, schüttelte besorgt den Kopf und ging dann ebenfalls seines Weges.

Die SeelenwandererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt