Anklage an Gott

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Er starrte auf sein Blatt. Ihr Religionslehrer hatte den Kurs gebeten, eine persönliche Anklageschrift an Gott zu verfassen. Er glaubte nicht an Gott. Er hatte keinen Grund dazu, er glaubte an die Naturwissenschaften, fand seine Lösungen hier auf der Erde. Normalerweise. Doch er hatte so viel zu sagen, so viel zu klagen, und wusste nicht wo, wie, wann und an wen. Er nahm sich also einmal eine Aufgabe seines Religionslehrers zu Herzen.

Warum, Gott, warum hast du mich verlassen? Die Frage ist zu alltäglich für dich? Dann frag dich doch, warum. Warum, Gott, lässt du zu, dass mir alle Heiterkeit genommen wird? Gott, was genau habe ich getan um das zu verdienen? "Gott", das ist für mich kein Name mehr für ein Mysterium, für einen Übermächtigen Vater, an den ich meinen Glauben anlehne, kein Name, um mir die Welt zu erklären oder ihn zu verehren. Für mich ein Name voller Leere, Inexistenz, Unvollkommenheit, ein Grund zum Atheismus. Ich glaube nicht an dich, dass ich an dich eine Anklageschrift verfassen soll, ist blanker Hohn. Dennoch tu ich es, dennoch nutze ich deinen Namen um meine Seele zu offenbaren. Wieso verdammst du mich dazu, mich Kilo für Kilo runterzuhungern? Wieso verdammst du mich dazu, jeden einzelnen Kilo wieder drauf zu fressen? Warum machst du mich krank, wenn ich doch gerade aus meinem depressiven Leben ein glückliches gemacht habe? Wieso lässt du es zu, dass meine Welt wieder Stück für Stück auseinandergerissen wird? Warum lässt du mich mein Bestes geben, nur um dennoch zu scheitern, oder von anderen zum Scheitern verurteilt zu werden? Wieso schaust du stillschweigend zu, wenn sich meine alten Freunde von mir entfernen und ich in Panikattacken wertvolle Menschen von mir stoße? Schaust du Überhaupt zu? Und wieso wird mir die Energie geraubt in Momenten, in denen ich meine Energie am meisten bräuchte? Du kannst für keine dieser Dinge was, denn ich glaube nicht an dich, aber was ich echt von dir brauche ist Hoffnung. Gib mir einen Grund, für den es sich lohnt, mein Glück zu finden.

Er hatte fertig geschrieben und schaute auf sein Blatt. Manchmal war es erschreckend wie einfach er sein Innerstes preisgab. Um sich herum hörte er das Flüstern der anderen. Er entnahm, dass deren Sorgen sich um zu kurze Ferien drehten und dachte, dass er doch auch hätte lügen sollen. Sein Lehrer ging durch den Raum und kontrollierte die Schriften. Er spürte wie er stehen blieb und seine Augen auf seinem Blatt ruhten. Er versuchte, es mit einer Hand zu Überdecken, doch er war zu langsam. Sein Lehrer kehrte nach vorne zurück und blickte ihm in die Augen. Bat ihn vorzulesen. Er weigerte sich. Das waren seine Gefühle, die niemanden etwas angingen, niemand hatte das Recht sich Sorgen zu machen, sich zu Mitleid verpflichtet zu fühlen oder sich in sein Leben einzumischen. Das äußerte er. Daraufhin wurde ihm das Blatt von einem Mädchen am Nachbartisch entzogen. Sie las einige Sätze laut vor. Der Lehrer schritt nicht ein. Fragte, ob er wirklich so über Gott denken würde. Ließ ihn zu Grunde gehen. Wieso enttäuschten ihn Menschen nur immer wieder? Wieso? Er griff nach seinem Rucksack, machte sich bereit auf den ersten mutigen Schritt seines Lebens: den Raum zu verlassen. Er passierte die Tür, obwohl er wusste, welchen Ärger das bedeutete. Auf dem Flur war er wieder allein. Wie er es gewohnt war, nur dass er diesmal seine Seele dort drinnen hatte zurücklassen müssen.

Doch hinter sich vernahm er das Schließen der Tür. Schritte eilten hinter ihm her, sicherheitshalber beschleunigte er seinen Gang. Er spürte eine Hand an seinem Arm, einen Griff um sein Handgelenk, einen Blick in seine Augen, ein abruptes Entschleunigen seiner Beine. "Ich lasse dich nicht allein. Ich komme mit dir." Der Junge hielt sein Blatt in seinen Händen. Und lächelte.

Gott, heute habe ich mein Glück gefunden.


Zwei BlickeWhere stories live. Discover now