Heiße Tränen

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Heiße Tränen kullerten über ihre Wange. Ihr war schwindelig, sie konnte sich nicht mehr auf das Lernen konzentrieren. Als sie aufstand, um die Schulbibliothek zu verlassen, gaben ihre Beine nach. Ihr Leben zog an ihr vorbei, noch bevor sie auf dem Boden aufkam. Sie wusste genau, warum sie hier lag, so schwach war, sich alles im Kreis drehte und im Dunkeln verschwand.

Schritte näherten sich und ein Ausdruck des Entsetzens wurde verlautbart. Jemand griff ihr unter die Arme, zog sie ein Stück aus der Ecke hervor, drehte sie vorsichtig auf die Seite, strich ihr behutsam über die Wange um eine Reaktion zu erhalten. Sie öffnete ihre Augen, auch wenn sich alles drehte, war ihr Moment der Ohnmacht kurz gewesen. War es nochmal gut gegangen? Nein, dachte sie sich, denn es hatte jemand ihren Anfall bemerkt, sie konnte nicht, wie sonst, einfach weitermachen. Sie blickte in die Augen des Lehrers, der sie gefunden hatte. Sie zeigten Besorgnis. Er brachte sie ins Krankenzimmer, doch versuchte nicht, ihre Eltern zu erreichen. Das erstaunte sie. Stattdessen setze er sich neben sie. Er hatte eine nette, beruhigende Art und war schon immer ihr liebster Lehrer gewesen, obwohl sie seit Jahren keinen Unterricht mehr mit ihm gehabt hatte. Er fragte nach ihrem Befinden, sie log, und er merkte, dass sie log. Er versuchte, Verständnis zu zeigen, zuzuhören und sie merkte auf einmal, wie dringend sie sich jemanden zum reden wünschte. Das verschreckte sie, sie stand auf, wollte gehen, aber setzte sich doch wieder neben ihren Lehrer. Es war schwer, Worte zu finden, schwer, jedes einzelne heraus zu pressen, doch es gelang ihr. Sie berichtete ihm von der Trennung ihrer Eltern, von den Problemen mit ihrer Sexualität, ihrer entfernten Tante, die sie daraufhin enterbt hatte, was sie verletzte, obwohl sie sich nicht nahestanden, erzählte von ihrer Krankheit, von ihrer Krankheit und noch einer Krankheit, mit der sie nicht fertig wurde. Zu krank, sagten ihr seine Augen nun, wie bemitleidenswert, schrien sie ihr förmlich entgegen. Er tröstete sie, strahlte Vertrauen aus, doch seine Augen schreckten sie ab. Sie erzählte ihm nun, wie gerne sie im Mittelpunkt stand, dass sie sich viele Sachen ausdachte, die nicht stimmten, nur weil sie sich gerne umsorgt fühlte. Sie entschuldigte sich und verließ den Raum. Sie war enttäuscht, hauptsächlich von sich selber. Diesmal hatte sie nicht sich belogen, sondern die einzige Person, die mal zugehört hatte. Hoffentlich würde er nichts verraten.

Sie beschloss im Religionsunterricht, ihre Anklageschrift kurz zu halten:

Wem kann man noch vertrauen?

Früh war sie fertig und beobachtete den Jungen am Nebentisch. Einige Wörter konnte sie erkennen, depressiv, krank, scheitern. Doch er gab sich große Mühe, seinen Text zu verdecken. Beim Rundgang schien dem Religionslehrer ähnliches ins Auge zu fallen. Er forderte den Jungen auf, vorzulesen. Dieser verweigerte sich. Das machte sie unglaublich sauer. Wieso sollte nur sie ihre Geheimnisse aufdecken müssen? Wieso sollte nur sie ihr Leid mit anderen zu teilen haben? Warum sollte nur ihr Vertrauen in andere Menschen verletzt werden? Sie hatte nichts zu verlieren. Sie griff nach seinem Blatt, stand auf und las laut vor. Auch wenn es sie schockierte, hörte sie nicht auf zu lesen. Sie war verletzt und wollte jeden mit in den Abgrund ziehen, den sie erreichen konnte. Er stand schließlich auf, verließ den Raum. Warum hatte der Lehrer nicht eingegriffen, sie nicht gestoppt? Wie in Trance setzte sie sich wieder. Was hatte sie nun wieder getan? Ihre Hand verlor die Kraft und so spürte sie kaum, wie ihr ein anderer das Blatt entwendete. Eigentlich hatte die Anklageschrift ihr etwas Wichtiges mitgeteilt: sie war tatsächlich nicht allein. Gewesen. Bevor sie die Seele eines anderen zur Schau gestellt hatte. Sie war wieder allein und hatte nicht nur sich verletzt. Aber sie hatte bewiesen, was Vertrauen wert war. Man konnte nicht vertrauen. Niemandem.


Zwei BlickeWhere stories live. Discover now