24.12.16

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Samstag, der 24.12.16

Frohe Weihnachten, Harry


Diesmal klebte ich keine Briefmarke auf den Umschlag, und ich verließ auch nicht das Haus, um den Brief durch die winterliche Kälte zu tragen.
Diesmal öffnete ich die Tür zur kleinen Kammer und legte ihn zu den anderen.
Es waren bestimmt über 50 Briefe, welche sich über die Jahre hier angesammelt hatten, Erinnerungen, Schmerz, Freude, Freundschaft.
Ich hatte gelernt, alles zu akzeptieren, jedenfalls war es das, was ich mir Tag für Tag einredete.
Und dennoch hatten mich die Gedanken dazu gebracht, die letzten sechs Jahre verfilmen zu wollen, meine Gefühle in ein kurzes Projekt zu stecken.
Die fehlende Hauptperson war, wie sollte es anders sein, Harry, und ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihn von einer anderen Person spielen zu lassen.
Jede einzelne Szene ohne ihn war bereits gedreht, und die wenigen Stellen, in denen er vorkam, mussten wir auch bald filmen.
Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und griff nach dem ersten Brief.
Josy hatte sie nach Jahren geordnet, und es tat weh, auf dem Herz mit der 12 keinen einzigen Umschlag liegen zu sehen.
Ja, die Zeit hatte mir geholfen.
Doch ich hätte Harry nie im Stich lassen sollen.

Ich öffnete die Briefe nicht, betrachtete sie nur stumm im fahlen Licht, die Daten, die immer weiter auseinander drifteten.
Fast täglich hatte ich ihm geschrieben, ganz am Anfang, als ich noch dachte, er würde die Briefe vielleicht einfach ein paar Tage später beantworten.
Und dann, ganz plötzlich, begannen die Lücken.
Eine Woche, ein Monat.
Anschließend über ein Jahr.
Bis ich mich dazu durchringen konnte, klar zu denken.
Die Narben ruhen zu lassen und nur noch über sie zu streichen, sie nicht aufzureißen.

Die Klingel war ein fernes, fremdes Geräusch, die Schritte, Stimmen ordnete ich Nachbarn zu, die Josy und Jacob besuchen kamen.
Versunken in die Daten saß ich auf dem Boden, breitete die Briefe um mich herum aus, und begann, zu weinen, ohne es wirklich zu realisieren.
Wie konnten Monate, Jahre so schnell vergehen?
Konnte er mich wirklich einfach so vergessen haben?

Staub wurde aufgewirbelt, als jemand die Tür öffnete, und ich wusste, dass Josy mich gleich aufsammeln würde, mich in die Küche setzen, mir eine heiße Schokolade machen.
Doch stattdessen legten sich die winzigen Partikel wieder.
Es war ruhig, die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster und tauchten die Kammer in das orangene Licht, welches Harry und ich früher als Scheinwerfer für unsere Auditions genutzt hatten.
Wenige Minuten am Tag, mal früher, im Sommer später am Abend.

„Ist alles okay bei dir? Ich wollte dich nicht stören, Josy sagte, dass ich dich zum Essen holen sollte."
Es war nicht die Stimme, welche mich von dem Chaos aufblicken ließ.
„Dakota!"
Josys Ruf war es, der mich dazu brachte, ein letztes Mal durchzuatmen.
Doch nachdem ich die Tränen von meinem Gesicht gewischt hatte, um die Person zu betrachten, welche mich in diesem so persönlichen Moment gestört hatte, brachen alle Vorsätze zusammen, die ich mir innerhalb weniger Sekunden zurechtgelegt hatte.

„Harry?"

forget me - h.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt