Prolog

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1889

»Komm herein, Junge. Hab nur keine Angst.« Charles lächelte freundlich und nahm Anian an der Hand. Der kleine Junge stolperte unsicher in den großen Raum. Sein Vater hatte ihn noch nie mit in sein Büro genommen, welches direkt an die Bibliothek angrenzte. Es war sehr groß und geräumig. Man trat durch zwei Flügeltüren ein und blickte auf den großen imposanten Schreibtisch, hinter dem zwei Fenster waren, welche bis zum Fußboden reichten. Links befand sich ein Kamin vor dem seine Mutter in einem alten Ledersessel saß und die Arme ausbreitete. Schnell stürze sich Anian in die beruhigende Umarmung seiner Mutter. Sie roch wie immer nach Vanille und einem Hauch von Zimt. Er vergrub sein Gesicht in ihrem langen Kleid und schloss die Augen. Den Blick von seinem Vater abgewandt, fühlte er sich um einiges sicherer. 

»Der Junge sollte lernen, sich zu benehmen,« maßregelte Charles seine Frau. »Ich habe ihn schon wieder in der Küche bei den Bediensteten erwischt.« Er erhob die Stimme erzürnt. »Das ziemt sich einfach nicht! Du meintest, du würdest ihm zeigen, wo sein Platz ist«. Anian spürte die bedrohliche Anwesenheit seines Vaters, welcher hinter ihn trat. Er hob den Kopf von der Brust seiner Mutter und schaute seinen Vater an. Dieser hatte den Blick starr auf seine Mutter gerichtet.

»Beruhige dich, Charles,« erwiderte diese sanft und strich dabei durch Anians dunkle, schwarze Haare. »Er ist gerademal fünf. Ich rede nochmal mit ihm.« Seine Mutter hatte eine sehr angenehme und ruhige Stimme, doch sie wirkte nicht auf Charles. Er wandte sich wütend ab und schritt zum Bücherregal gegenüber. Er nahm ein sehr dickes Buch heraus und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Thomas hat viel mehr Verstand und Anstandsbewusstsein als dieser Bengel,« murmelte er abwertend und Anians spürte ein Stechen in seinem Herzen, welches sich zusammen zog. »Ich dachte immer, bei uns beiden kann nur etwas Unfehlbares herrauskommen, Katherine, doch ich habe mich offensichtlich geirrt ... na wenigstens ist er nicht unser erster Sohn. Immerhin in der Hinsicht haben wir es geschafft.« Liebenswürdig betrachtete er ein eingerahmtes Bild von Thomas aus seinem Schreibtisch. Thomas war ein paar Jahre älter als Anian und sah ihm in gewissen Hinsichten sehr ähnlich – nur war er um einiges schöner anzusehen als sein kleiner Bruder. Thomas hatte nicht die kühlen blauen Augen wie Anian, sondern sanfte braune. Seine Gesichtszüge waren weicher und auch sein Haar gezähmter. Er wirkte ordentlicher und gesitteter. Auch sein Lächeln fand Anian schöner. Am liebsten wollte er wie sein Bruder aussehen ... und sein.

Charles bedeckte Anian mit einem hasserfüllten Blick als er von dem Portrait aufblickte. Anian schluckte schnell die Tränen runter, welche sich in seinen Augen sammelten und machte sich von seiner Mutter los. Eilig stürzte er auf die Tür zu. 

»Was denkst du denn, wo du hingehst, Bursche?« erklang wieder die schneidende Stimme seines Vaters und brachte ihn dazu jäh anzuhalten.

»In mein Zimmer...« Er war stolz auf sich, diese Worte herausgebracht zu haben, ohne dass seine Stimme zitterte. Das tat sie oft wenn sein Vater mit ihm redete oder in der Nähe war. Er fühlte sich dann immer sehr klein, schlecht und dumm.

»Du wirst nicht in dein Zimmer gehen.« Ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seines Vaters Gesicht aus, was seine Züge merkwürdig entstellte. »Ich erwarte dich im Erziehungsraum!«

»Charles!« rief seine Mutter aus und stand auf aus dem Sessel, »nicht schon wieder! Er ist noch so klein, du -« doch die wütenden Worte ihres Mannes, schnitten ihr den Satz ab.

»Setz dich wieder hin, Frau!" zischte er, »oder willst du, dass es ihm noch schlechter ergeht?« Wortlos und hilflos ließ sie sich wieder in den Sessel sinken. Mit einem eisernen Blick wandte sich Charles wieder an seinen Sohn. »Ich erwarte dich dort in fünfzehn Minuten. Ich werde Hadley schicken um dich zu holen. Solange wartest du im Salon," sagte er kalt und senkte den Blick wieder auf sein Buch. Anian stahl sich schnell aus dem Raum. Seine Gliedmaßen fühlten sich an wie Blei und es war eine Qual die Treppen nach unten in den Salon zu steigen. Sein kleiner Körper zitterte und die Tränen liefen ihm über die Wange. Keine Selbstkontrolle, keine Disziplin. Die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf wieder, während er Stufe um Stufe nach unten stieg. Die Gewissheit dessen, was gleich passieren würde überschattete all seine Gedanken.

Asbury Haus : Die Überreste meines LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt