Um Gottes Willen, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in solch einen strömenden Regen gekommen zu sein. Es schüttete als gäbe es kein Morgen. Ich musste gar nicht erst versuchen, halbwegs trocken zur Bushaltestelle zu gelangen, denn schon nach zwei Schritten unter freiem Himmel fühlte ich mich wie frisch geduscht. Auch das verzweifelte Hochstellen des Kragens der Jacke und die hochgezogenen Schultern verhinderten nicht, dass eiskaltes Wasser meinen Nacken entlang und den Rücken hinunter lief. Kurz gesagt, es war grauenvoll.
Glücklicherweise nahm der Weg zur nächstgelegenen Bushaltestelle nur wenige Minuten in Anspruch, weshalb ich dort auch, jedoch triefend nass, nach kurzer Zeit ankam. Sobald ich unter dem schützenden Dach stand, atmete ich hörbar auf und ließ meinen Kragen los.
"Schlimmes Wetter, nicht wahr?", ertönte neben mir eine wohlklingende Stimme. Schnell drehte ich mich um und erblickte eine etwas ältere Dame, die mich mit schief gelegtem Kopf mitleidig ansah. Ich nickte nur zustimmend; Smalltalk war noch nie eine meiner Stärken gewesen. Dass schien auch die Frau zu bemerken, denn sie unterließ weitere Versuche, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Demzufolge warteten wir beide schweigend auf den Bus.
Ich konnte es kaum erwarten, ins trockene Warme zu kommen., als dieser dann auch wenige Minuten später erschien. Das schreckliche Wetter ließ sogar mich meine eigentliche Abneigung öffentlichen Verkehrsmitteln gegenüber vergessen. Abneigung deshalb, weil diese nur vor potentieller Gefahr, von Fremden angesprochen zu werden, sprühten! Da bevorzugte ich doch lieber den Abholdienst meines Vaters, bei dem ich wusste, auf welche Gesprächsthemen ich mich da einlasse. Wie gesagt, ich war ein stilles, graues Mäuschen, und ganz ehrlich. Das wollte ich auch lieber bleiben.
Nachdem ich mich auf einen freien Platz niedergelassen hatte, zog ich Kopfhörer aus meiner Tasche und versank aus dem Fenster schauend in die weite Welt der Musik. Ich hörte wirklich gerne Musik. Sie ermöglichte es mir, den Alltag zu vergessen, meine Schüchternheit hinter mir zu lassen und zur Abwechslung mal ungezwungen zu sein. Die richtige Musik konnte mich sogar unglaublich mutig machen! Jedoch kam diese Seite von mir sehr selten und nur unter bestimmten Umständen zum Vorschein. Doch wenn ich nun so in meiner Welt verschwand und vor mich hin dachte, da ging es mir wirklich gut. Ich konnte sogar kurzzeitig vergessen, an welchem Ort ich mich gerade befand, und wenn ich die Augen schloss, hatte ich die Möglichkeit, mich an jeden Ort der Welt und in jede Zeit zu begeben, die ich mir nur vorstellen konnte. Eine fantastische Eigenschaft der Musik.
Doch heute sollte mir das Glück, für mich zu sein, nur kurzfristig gegönnt sein. Es dauerte nicht lang, da wurde ich durch ein Tippen an meiner Schulter aus den Gedanken gerissen. Augenblicklich zuckte ich zusammen, zog die Kopfhörer heraus, drehte mich um und erblickte einen Jungen etwa in meinem Alter.
"Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", sagte er, "aber kann ich mich hier hinsetzen?"
Schüchtern nickte ich. Sobald er sich gesetzt hatte, rutschte ich automatisch ein Stück näher ans Fenster um möglichen Kontakt zu vermeiden. Ich wollte gerade meine Kopfhörer wieder reinstecken, da sprach der Junge plötzlich erneut.
"Du scheinst ziemlich nass geworden zu sein.."
Ich blickte ihn nur eher scheu von der Seite an und bemerkte dann: "Nun ja, ... es regnet ja auch." Ein belustigtes Schmunzeln zierte seine Lippen.
"Tatsächlich?", meinte er und sah mich an. Ich schaute ihn verstohlen von der Seite an, doch da trafen sich unsere Blicke und seine wahnsinnig blauen Augen zogen mich in seinen Bann. Ehrlich, ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben so blaue Augen gesehen. Hildegard von Bingen meinte einst, die Augen seien das Fenster zur Seele. Wenn dieser Ausspruch wirklich etwas Wahres in sich trägt, dann würde ich behaupten, dass dieser Junge hier die tiefgründigste und wahrhaftigste Seele in sich trägt, die ich in meinem Leben je kennenlernen würde. Ich war überhaupt nicht mehr in der Lage, mich loszureißen, selbst beim besten Willen nicht. Erst, als er mich abermals ansprach, konnte ich mich abwenden.
"Alles in Ordnung?", fragte er mit leicht besorgtem Unterton, "Stimmt etwas nicht?"
"A..Alles okay", stotterte ich, "Mir geht's gut." Unbeholfen strich ich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte den Blick schnellstmöglich ab. Dann starrte ich wieder abwesend aus dem Fenster, spürte aber seinen Blick von der Seite.
"Du bist nicht sehr gesprächig, nicht?", bemerkte er nun. Ohne mich vom Fenster zu drehen, die Gefahr, seinen Augen ein weiteres Mal nicht widerstehen zu können, war zu groß, antwortete ich nur mit: "Nicht wirklich, nein."
"Okay" Das Gespräch schien beendet. Erleichterung machte sich in mir breit und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann ertönte allerdings die Durchsage, die meine Station ankündigte und ich musste mich recht zügig aufraffen. Ohne den Jungen auch nur mit einem weiteren Blick zu streifen, packte ich meine Sachen, erhob mich und bat darum, dass er mich bitte hinauslassen würde. Dies tat er auch bereitwillig, stand ebenfalls auf, ließ mich heraus, sah mich allerdings die gesamte Zeit über an. Er setzte sich auch nicht, als ich an der Tür stand und sein Platz längst wieder frei geworden war. Stattdessen stand er mitten im Gang und sah mich weiterhin an.
Der Bus hielt an. Noch bevor die Türen öffneten, tauchte er plötzlich neben mir auf, hielt mir die Hand hin und sagte: "Jacob". Völlig perplex wusste ich zuerst nicht, was er meinte, dann dämmerte es mir aber allmählich, dass er sich vorstellte und ich erwiderte den Händedruck, zwar zögerlich, aber ich tat es. "Rhiannon." Wieder verfingen sich meine Augen in seinen, doch diesmal war ich schnell genug außerhalb des Busses und sah nur noch ein schiefes Lächeln seinerseits hinter den schließenden Bustüren verschwinden. Ich lächelte verhalten zurück, drehte mich dann schleunigst um und trat die letzten paar Meter durch den noch immer strömenden Regen zu unserem Reihenhaus an.
Das Lächeln blieb mir jedoch noch immer im Hinterkopf und verließ auch über den restlichen Tag meine Gedanken nicht.
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How about Jacob McDunar?
Teen FictionHow about Jacob McDunar? Who changed my life without knowing it Über das Schicksal lässt sich ja streiten. Die einen sagen, Schicksalsschläge bestimmen unser Leben, die anderen, es sei ein reines Hirngespinst. Wirklich beweisen kann man aber weder d...