Der Wirt

35 1 0
                                    

„Warum kannst du mir nicht einmal die Wahrheit sagen? Warum musst du mich immer zu anlügen? Kannst du nicht einmal der sein, den ich vor so vielen Jahren getroffen habe, dem ich mein Herz gegeben habe, dem ich erlaubt habe, mich ins Unbekannte zu entführen? Wenn ich dich ansehe, steht vor mir nichts als eine leere Hülle, ein Überbleibsel von dem, der du warst, der du hättest sein können. Mit mir. Kein Du. Ein Wir. Und du hast es weggeworfen, mit einem Blick als hieltest du Müll in deinen ach so gehobenen Händen. Ich weiß noch genau wie ich dich ich anflehte, wie ich weinte, vor dir zusammenbrach, nicht aufgeben wollte, immer das Gute in dir gesehen habe, eine gemeinsame Zukunft, bis du dich umgedreht hast. Du hast mich zurückgelassen in einem Palast aus zerborstenen Tränen. Finde mich. Ich warte." Nach all der Zeit hallen mir ihre Worte noch immer voller Schmerz nach. Sie konnte nicht wissen, warum ich sie verließ, weshalb ich nie zu ihr zurückkam. Sie durfte es nicht wissen. Es hätte sie nur in die Tiefen des Wahnsinns getrieben. Mein ganzer Körper verflucht mich, jede einzelne Faser will mich verurteilen, für meine Taten richten. Und es wäre richtig, mich zu stellen, für das Geschehene mit meinem Leben zu bezahlen, auch, wenn das lange nicht genug wäre. Meine Kinder und Kindeskinder würden bis in die Ewigkeit für mein Handeln bestraft, bis sie nach unsagbar vielen Millennien erlöst würden, nur, um auf ewig verachtet zu werden. Ich schreibe dies nicht, um euer Mitgefühl und Erbarmen zu wecken. Ich schreibe dies nicht, um mich zu rechtfertigen. Ich schreibe dies nicht, um irgendjemanden irgendeine Genugtuung zu verschaffen. Ich schreibe dies, damit meine Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, denn was in den Geschichtsbüchern steht diktieren die Sieger und ich bin das mit Sicherheit nicht. Damit ihr versteht, wovon ich rede, muss ich am Beginn der Zeit selbst anfangen. Eure Eltern haben euch, wie auch deren Eltern ihnen, die Legende von Eldyria weit öfters als ein Dutzend Mal erzählt. Jedes Kind weiß, wie sie die Hallen der Täler betrat, wie sie ihre Augen schloss und mit dem Felsen sprach, als träfe sie einen alten Freund, wie sie mit dem Feuer um die Wette tanzte, als wäre sie von den Weisen selbst besessen, wie sie mit dem Wind unsere Lieder sang, als verliebe sie sich zum ersten Mal. Ihr alle wisst, wie sie mit dem Wasser in alten Erinnerungen schwelgte, als wären sie Kindesfreunde. Und ihr alle wisst, wie sie mit dem Schatten flüsterte, als kannten sie sich schon ewig. In diesen Hallen, deren Klang euch so vertraut wie die Stimme eurer eigenen Mutter ist, obwohl eure Lungen sich noch nie mit ihrer Luft gefüllt haben, schuf Eldyria den Atemstein, welcher demjenigen, der ihn in Händen hält, unbegrenzte Macht und Wissen verleiht. Die Kette, in die er eingearbeitet war, verschwand spurlos und machte ihn selbst und Eldyria zu der Legende, die ihr kennt. Doch was, wenn ich euch sage, dass all jenes keine Legende ist? Dass der Atemstein noch immer verschollen in diesem Land zu finden ist? Oder sollte ich besser sagen, wieder verschollen ist? Dass ich als einziger Mensch dieser Erde weiß, wo er sich befindet? Ihr würdet mir nicht glauben und doch sehe ich das Funkeln in euren Augen, die Gier, den Machthunger. Manchen dürstet es nach Wissen, anderen nach der unbegrenzten Macht die der Stein seinem Träger verleiht. Doch euch allen ist eines gemein: tief in eurem Inneren wollt ihr nicht wahrhaben, dass eine solche Naturgewalt unauffindbar sein soll. Die, deren Augen am stärksten leuchten, die von ihrer eigenen Gier so geblendet sind, dass sie grundlos morden und foltern würden, nur, um ihn in Händen zu halten, werden als Erstes an sich selbst zugrunde gehen. Ihnen folgen die Weisen und Priester. Die Gelehrten und der Adel. Als letztes gehen ihnen die Tapferen und Mutigen hinterher. Doch die Dummen, die Versager, die, die jeder verabscheut, der Dreck der Gesellschaft, sie werden ihn finden, obwohl sie nie nach ihm suchen werden, nie seine Geschichte gehört haben und noch nie etwas so Wunderschönes gesehen haben." Mit zittriger Hand legte der Wirt seine Feder zur Seite, nahm ein weißes Tuch und wischte den Kiel mit einer gezielten Bewegung ab. Wer ihn nicht kannte, meinte, er sei ein alter Mann. Doch betrachtete man ihn genauer, sah man die unzähligen silbernen Narben, die sein Gesicht zierten. Ging man um ihn herum, so bemerkte man, dass er keineswegs gebeugt stand, sondern dass sein ganzer Körper von einer solchen Spannung durchzogen war, als wolle er sich sofort in einen Kampf stürzen. Trat man nah heran, so erblickte man einen Ausdruck in seinen Augen, der sowohl unendlich weise, als auch traurig war und wenn man den Atem anhielt, so meinte man hören zu können, wie er zu singen begann. Er sang in vielen verschiedenen Sprachen auf einmal, wechselte vom Alt-Kertischen zum Ardischen nur um im nächsten Vers wieder in einer uns verständlichen Sprache sein Lied zu beenden und mit dem nächsten zu beginnen. Seine Hände fuhren über das Holz des Tresens, doch fanden sie nicht ein einziges Staubkorn. In dieser einfachen Bewegung lag eine solche Bestimmtheit, dass sie mehr zu sagen schien, als es je irgendein Chronist hätte zu Papier bringen könnte. In dem dünnen Film aus Schweiß, den sie auf der feinen Maserung hinterließen, spiegelten sich schwach die vier Lampen, welche den Raum in ein schummrig warmes Licht tauchten. Und doch, so schien es Delion, wollten die Schatten unter den Tischen etwas vor ihm verbergen. Er meinte, wenn er sich anstrengte, ihr Gekicher und Getuschel hören zu können, doch zuckte er auch nur leicht mit der Schulter oder schluckte er, so verkrochen sie sich tiefer, bis er sie nicht mehr verstand. Dieser Gedanke wurde sofort vertrieben, als eine in Leder gekleidete Hand die Eichentür aufstieß und der Winterwind gnadenlos mit den Flammen spielte, sie herumwirbelte und schließlich zum Erlöschen zwang. Dunkle, mit Eisen beschlagene Stiefel bahnten sich ihren Weg durch den nun düsteren Raum, vorbei an Tischen, von denen kein Gelächter oder anstößige Scherze durch die Luft schallten, kein Krug beim Absetzen ein Klirren von sich gab oder auch nur ein Stuhl verschoben wurde, einfach, weil niemand sonst dort saß. Delion schob langsam seine Hand unter den Tresen, bis sie schließlich den kalten Griff fand, den er gesucht hatte. Ohne das leiseste Geräusch von sich zu geben, zog er die kalte Klinge aus hässlichem, grauen Metall zu sich und verbarg sie unter dem Tuch, das er mit seiner freien Hand wieder aufgenommen und nach unten geführt hatte. Für den Mann, er konnte aufgrund des zur Unkenntlichkeit verunstalteten Gesichtes nur vermuten, dass es einer war, sah es aus, als habe der Wirt nur mit einem Stück Stoff seinen Tresen gesäubert. „Darf ich euch einen Krug Bier anbieten? Ihr seht aus, als hättet ihr eine beschwerliche Reise hinter euch. Ich habe auch feinsten Wein aus dem Süden oder Pflaumenlikör aus dem Osten, falls das eher Euren Wünschen entspricht.", bot Delion mit seinem besten Gastwirtslächeln an und präsentierte während er sprach die angepriesenen Flaschen. Das Tuch mit seinem tödlichen Inhalt lag währenddessen vor ihm auf dem Tresen. Der Mann griff mit seiner rechten Hand in eine seiner vielen Manteltaschen und zog eine Schriftrolle hervor, die Kunstvoll mit einem grünen Siegel verschlossen war, welches zwei steinerne, sich schließende Türen zeigte, durch die zwei Hirsche mit stolz erhobenen Häuptern hindurchschritten. Das Papier war von einer solchen Qualität, dass man es hier, im Niemandsland, für zwanzig Pferde oder gar fünfzig Hektar Land hätte tauschen können. „Ich nehme einen Wein, während Ihr lest.", erwiderte der Mann. Die Art und Weise, wie er diesen Satz gesagt hatte, ließen Ihn wie einen Befehl mit einer überzeugenderen Wirkung als zehn Peitschenhiebe klingen. Das Papier schmiegte sich an Delions Hand, es war weißer als der Schnee und so rein, dass niemand auch nur eine einzige Faser erkennen konnte. Mit dem Daumen brach er das Siegel. "Ihr könnt euer Messer übrigens wieder zur Seite legen, es würde euch sowieso nichts nützen." "Was sagtet Ihr?" Wie hätte er das Messer sehen können? Er hatte es unter einem Tuch verborgen und es bedürfte gar eines Schmiedemeisters der Fulier um auch nur die Gestalt unter dem Stoff zu erahnen.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: May 07, 2018 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Der Palast der zerborstenen TränenWhere stories live. Discover now