Kapitel 2

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Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es konnte nicht so lange gewesen sein, weil es immer noch Nacht war. Trotzdem fühlte ich mich, als wären wir schon Tage unterwegs. Früher konnte ich Pferden nie viel abgewinnen. Irgendwie machten die großen Tiere mich nervös.
Tja und heute...
Weder fast von einem Pferd (Kelpie?) gefressen zu werden, noch der unfreiwillige Ritt mit meinen Entführern machte mir das Reiten sympathischer.

Wir ritten ohne Pause. Meine Rippen schmerzten und mir war schlecht, aber ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Der Mann hinter mir war still, bis auf einige unverständliche Kommentare an seine Gefährten.
Wenn ich gewusst hätte, dass meine Gälischkenntnisse mal über mein Überleben entscheiden würden, hätte ich mir mit Sicherheit mehr Mühe gegeben. Aber jammern half mir jetzt auch nicht. Am besten, ich wartete, bis man mich von diesem Pferd runter hob und floh dann. Wenn ich mich denn wieder bewegen könnte.

Eine Erinnerung formte sich zwischen meinen wirbelnden Gedanken. Ein Name. Lorcan?
Wer auch immer das war, vielleicht könnte ich mit ihm sprechen.
Oder vielleicht würde er genau so schlecht reagieren, wie der Mann hinter mir. Und was sollte das überhaupt heißen, Lügnerin?
Ich würde doch wohl meinen eigenen Namen besser kennen, als irgendein fremder Mann!
Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht hoffte ich, einfach aufzuwachen. Vielleicht war das alles nur ein sehr seltsamer Albtraum.

Das Pferd unter mir machte eine ruckartige Bewegung und meine Rippen brannten. Nein, kein Albtraum. Aber was dann?
Ein Gedanke schlich sich an die Oberfläche.
Eine Nacht, in der der Schleier zwischen den Welten besonders dünn ist...
Sarahs Stimme hallte in meinem Kopf.
Aber das konnte nicht sein. Wahrscheinlich lag ich betrunken am Strand. Hoffentlich. Vielleicht war ich auch im Koma. Konnte man im Koma Schmerzen fühlen? Anscheinend.
Trotzdem sagte mir etwas, dass ich besser handeln sollte.
Vor allem, als die rhythmischen Schritte des Pferdes plötzlich stoppten.

Ich wurde unsanft gepackt und über eine Schulter geworfen. Der Mann, der wenigstens ein bisschen Englisch sprach, trug mich, wobei er einen der anderen die Zügel seines Pferdes in die Hand drückte. Dann schritt er zielstrebig zwischen die dichten Bäume, die uns umgaben. Wo auch immer wir hier waren, es war ganz sicher nicht Galway. Wie das möglich war, wollte ich lieber gar nicht so genau wissen. Nur wie ich wieder zurück kam.
Ein Kribbeln lief durch meinen Körper.

"Ich bringe dich zu Lord Lorcan. Ihn lügst du besser nicht an, Mädchen!"
Das letzte Wort klang so abfällig, dass es mir einen Schauder über den Körper jagte. Ich zitterte. Ob vor Kälte oder Angst, ich wusste es nicht. Da fiel mir auf, dass ich zittern konnte. Ich konnte mich bewegen!

Sofort begann ich, zu treten und zu kratzen. Dabei traf ich mit meinem Knie auf einen Widerstand. Der Mann stieß etwas aus, dass wie ein Fluch klang.
Dann wieder dieses Kribbeln. Mein Körper hörte sofort auf zu zittern. Kalt war mir leider immer noch in meinen dünnen Sachen. War die Luft so abgekühlt?

Versuchsweise hob ich meinen Arm. Wie erwartet tat sich gar nichts. Na toll!
"Was soll das!" Zu meiner Überraschung war meine Stimme zwar zittrig, aber deutlich zu verstehen. Ich konnte sprechen!
Ohne seine Schritte zu verlangsamen, antwortete mein Entführer:
"Was, dass ich dich vor dem Kelpie gerettet habe, oder dass du vermutlich hier bist, um uns alle umzubringen?"
Ich starrte erschrocken auf das Laub vor mir, dass im Mondlicht rötlich glänzte. Seltsam. Alles hier war seltsam!
"Ich..." Meine Stimme war immer noch brüchig. "Ich will ganz bestimmt niemanden umbringen! Ich will eigentlich gar nicht hier sein!"
Und dann fiel mir noch etwas viel Wichtigeres ein:
"Wo ist "hier" eigentlich?"
Er schnaubte.
"Verkauf mich nicht für dumm, Wintergör! Inzwischen weiß ich ja, dass du aus irgendeiner Laune der Natur heraus fähig bist zu lügen!"
"Aber ich lüge nicht!"
Ich klang verzweifelt.
"Ach nein? Dann nenne mir deinen Namen!"
Was hatte er nur immer mit Namen? Aber wenn es ihn erfreute...
"Mein Name", sagte ich, jede Silbe deutlich betonend, "Ist Roisin Connelly."
Er zischte. Es klang fast wie das Fauchen eines Tieres.
Und da war das Kribbeln wieder: diesmal in meiner Kehle.
"Spare dir deine Lügen für den Lord! Er wird schon wissen, was er mit einem Wintergör wie dir macht."
Ich wollte etwas entgegnen, aber meine Stimme blieb weg.

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