Die Tage vergingen wie im Flug. Gerade eben habe ich noch die Einladung einer Elitschule erhalten, und im nächsten Moment muss ich schon die Koffer packen und ziehe praktisch gesehen mit 16 Jahren aus meinem Familienhaus aus. Aus meiner Heimat, die ich schon so ewig kannte und eigentlich nie ganz verlassen wollte.
Und jetzt musste ich über 250 Kilometer von allem, was ich liebe und lebe, entfernt sein.
Es ist nicht fair, wie die Zeit an einem vorbeizieht und alles in aschfahle Farben taucht. Die letzten Tage wirken für mich wie ein gerissener Schatten meiner Selbst, der hinterlistig um mich herumwirbelt und mir schelmisch ins Ohr flüstert: "Du wirst nie wieder zurückkommen. Verlasse Groombridge und du verlässt dich selbst!"
Doch die zischende Stimme schloss ich aus meinen Gedanken aus, ich versuchte es zumindest. Stattdessen gab ich mir alle Mühe, mich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren.
Wie zum Beispiel das brenzlige Verhältnis zwischen mir und meiner Mom.An dem Abend, an dem ich in den Wald gerannt war, war der Abend, an dem ich mich innerlich fast aufgegeben hätte.
Doch als ich an diesem Tag wieder nach Hause kam, schweißbenetzt und tränenüberströmt, hatte meine Mom etwas getan, was ich ehrlich gesagt am wenigsten erwartet hatte.Sie hat mich in die Arme geschlossen.
Und das, obwohl ich sie so ungerecht behandelt uns ignoriert hatte, wie eine Freundin, mit der ich mich ziemlich heftig gestritten hatte.
An diesem Abend hatten wir uns noch ein wenig aussprechen können. Ich hätte nie glauben können, dass ich irgendwann wieder normal hätte mit ihr reden können; daher bin ich umso glücklicher, dass wir uns ein wie früher unterhalten konnten.
Es war seltsam.
Man sollte doch nicht so zu seiner Mutter stehen. Aber wir waren noch nie sehr eng miteinander, und als Dad plötzlich in unserem Alltag fehlte, hätten wir eigentlich zueinander finden sollen. Stattdessen hatten wir uns voneinander gestoßen wie zwei giftige Schlangen, die nach einer unglücklichen Begegnung wieder ihrer Wege gingen.
In all den Romanen waren Mutter und Tochter oftmals wie richtig gute Freundinnen gewesen. Warum nur bei mir nicht?
Wieso musste alles so unheimlich kompliziert sein?Doch es brachte nichts, darüber zu philosophieren und vor mich her zu grübeln.
Taten waren das einzige, was wirklich zählte.
Also schnappte ich mir meine zwei übergroßen, extrem schweren Koffer und hievte sie vorsichtig unsere schmale Treppe hinunter. Unten angekommen stellte ich sie völlig außer Atem ab.
Wenn es dort auf dieser Luxusschule für verzogene Gören und Buben einen Fitnessraum gab, würde ich bestimmt nicht zögern, ihn zu benutzen.
Wer weiß, vielleicht gab es ja dort gewiefte Bösewichte, gegen die ich kämpfen musste. Da würden ein paar Muskeln mehr bestimmt nicht schaden.Die Haustür öffnete sich und der süße Duft der Morgenbrise wehte in die Küche hinein. Warme Sonnenstrahlen benetzen mein Gesicht. Kurz darauf erschien meine Mom im Türrahmen.
Ein Strahlen schlich sich auf ihr Gesicht. Meine Mom war auch auf dem Wycliffe College gewesen. Nun freute sie sich anscheinend, dass ich mich dazu entschieden habe, in ihre Fußstapfen zu treten.
Ich muss mir selber eingestehen, die Entscheidung viel mir alles andere als leicht. Man sollte meinen, dass ich unbedingt auf die Schule gehe wollte, die die jüngere Version meiner Mutter auch schon besucht hatte. Doch stattdessen stellte ich mir vor, wie ich dort die Hölle auf Erden erleben würde.
Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass diese Schule mir mehr bringen würde, als der Privatunterricht, den ich Zuhause genossen habe.Aber wahrscheinlich ist es letzten Endes doch eine gute Entscheidung.
Vielleicht brauchten meine Mom und ich einfach etwas Abstand voneinander, um uns darüber klar zu werden, wie wir unser Leben ohne Dad fortsetzen wollen.
Es war eine so große Veränderung, wenn dir plötzlich jemand aus deinem Leben gerissen wurde, der dir so unwahrscheinlich nahe stand.
Man könnte es vielleicht damit vergleichen, als wäre ein Teil von dir brutalst entrissen worden. Ein Stück deines Herzens, das sich von dir löst und in der ewigen Dunkelheit des Nichts für immer verschwindet.
Und niemand könnte dich trösten.Man versinkt in Selbstmitleid, schließt sich in eine Kapsel ein und schottet sich von der gesamten Welt ab.
Und genau deshalb musste ich etwas verändern.
Auch wenn ich mir innerlich wünschte, mein Leben würde einfach an mir vorbeiziehen, damit ich dem Schmerz entgehen konnte, so war ich mir doch dessen bewusst, dass ich aus mir herausbrechen musste.
Aus all den schlechten Gewohnheiten und Gedanken, die meinen Alltag überlagerten.
Ich musste mich einfach der harten Realität stellen.
Also erzwang ich ein kleines Lächeln. Es sollte so aussehen, als würde ich mich freuen. Als würde ich es wertschätzen, auf dieser Schule angenommen zu sein. Doch der amüsierte Blick meiner Mutter zeigte, dass sie mich durchschaute.
"Ach Josefine." Mom kam langsam auf mich zu und legte ihre zarten Arme um meinen Körper. Zögernd drückte sie zu.
Normalerweise wäre ich zusammengezuckt und in einer Schockstarre verharrt.
Normalerweise hätte ich sie von mir gestoßen und sie hasserfüllt angestarrt.
Normalerweise hätte ich gedacht, wie sie nur so tun könnte, als wäre alles normal, obwohl Dad nicht mehr da ist.Aber heute ist nichts normal. Diese Möglichkeit gibt es nicht mehr für mich.
Deshalb schlang ich meine Arme um ihre zerbrechlichen Schultern und legte meinen Kopf auf diese. Der schwache Duft nach Rosen und Waldwiese drang in meine Nase ein. Es war wie in alten Tagen, überlegte ich.
Wir waren früher so oft auf einer kleinen Lichtung im Wald gewesen und haben dort auf einer Decke gepicknickt. Die Sonne hatte auf unser Gesicht geschienen. Stundenlang verbrachten wir auf dieser Waldwiese und haben einfach nur den Sommer genossen.
Wir haben gelebt. Wir waren frei.
Plötzlich wünschte ich mich sehnlichst auf diese Lichtung zurück. Es war zwar Jahre her, dass wir dort gewesen waren, aber damals war alles noch okay. Wir waren eine Familie und die Welt schien für diese wenigen Stunden friedlich.
Doch dann ließ mich Mom los, auch wenn es ihr sichtlich schwer fiel.
Aber wie gesagt: Ich musste mich der harten Realitätstellen.
Also nahm ich in jede Hand eine Tasche und ging hinaus aus dem Haus, welches ich wahrscheinlich nicht so bald wieder sehen würde.
Noch bevor ich meine Entscheidung infrage stellen konnte, warf ich das Gepäck in den Kofferraum und stieg in unser Auto ein.
Der Motor heulte auf und wir setzten uns in Bewegung. Aus der Einfahrt hinaus, auf die schmale Straße, die uns immer weiter und weiter von unserem Haus trennte. Von den roten Backsteinen die von dunkelgrünem Efeu überwuchert wurden. Von den weißen Fenstern, durch die ich so oft auf den Waldrand geschaut hatte, dass ich es nicht mehr zählen konnte.
Ich trennte mich von all dem, was ich Heimat nannte.
Und trotzdem blickte ich nicht zurück, als wir Groombridge verließen.
***
4. Kapitel fertig :D
Hat ein wenig gedauert, aber ich hoffe es gefällt euch!Übrigens haben wir die 175 Reads geknackt!! Danke dass ihr immer so lieb lest und votet :)
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Dancing In The Moonlight
Teen FictionJosefine ist alles andere als ein stinknormales High-School Mädchen. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen in ihrem Alter geht sie nur ungern bis gar nicht auf Partys, hat sich noch nie in ihrem Leben verliebt und besucht keine Schul...