Eins

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Ich sehe zum Himmel hinauf und ziehe meinen Poncho noch höher. Dunkle Wolken verdecken die milde Sonne und eine leichte Brise säuselt durch mein Haar und trägt den Geruch des Meeres zu mir empor. Das Wasser kräuselt sich leicht und schlägt geräuschvoll an die steilen Klippen. Hier sitze ich oft, egal ob um nachzudenken oder einfach nur um zu entspannen, wann immer Dad gerade wieder einmal für längere Zeit auf dem Festland ist ist der Noup mein Hauptaufenthaltsort. Normalerweise bin ich mit Joana hier, doch momentan ist sie mehr daran intessiert sich Outfits zusammenzustellen um sich morgen an meinen großen Bruder ranzumachen. Das war vielleicht früher lustig, als wir noch dreizehn waren, doch jetzt mit sechzehn ist das nicht mehr lustig, denn ich weiß, dass sie es nicht mehr als Spaß meint. Vermutlich war ich auch deswegen weniger begeistert, als John sagte, dass er über die Ferien herkommen würde.

Mit geschlossenen Augen sitze ich auf einem Fels auf dem Noup und baumle mit den Beinen, dabei genieße ich die Ruhe und summe eine leise Melodie vor mich hin. Ich liebe meinen Bruder wirklich, aber er behandelt mich immer als wäre ich ein kleines Kind, außerdem habe ich ständig das Gefühl nicht dazuzugehören wenn er da ist. Aber vermutlich tue ich das auch nicht, schon allein vom Aussehen her würde man mich nicht ihnen zuordnen.

Meine leise Melodie neigt sich dem Ende zu und schließlich sitze ich nur noch stillschweigend da und wiege leicht im Takt der brechenden Wellen.

"Wusste ich doch, dass ich dich hier finde!" Wie von einer Tarantel gestochen springe ich auf und wirbele herum. In meiner Bewegung ahne ich aber schon, wer dort mit mir gesprochen hat.

"Meine Güte, John!", rufe ich aus und falle ihm um den Hals.

"Wieso bist du denn schon da? Ich dachte du kommst erst morgen."

"Überraschung!", lacht er nur. Mut verschränkten Armen trete ich einen Schritt von ihm weg und versuche ein trotziges Gesicht aufzusetzen.

"Du hast mich zu Tode erschreckt!", erkläre ich gespielt ernst und er spielt mit.

"Ich entschuldige mich aus vollstem Herzen, Mylady. Es wäre mir ein Geschenk, wenn sie dies als Entschuldigung annehmen würden", meint er und verbeugt sich tief, so dass ihm ein paar dunkelbraune Haarsträhnen in die Augen fallen.

"Was hast du eigentlich mit deinen Haaren gemacht?", frage ich als er wieder normal vor mir steht. Seine Haare sind bedeutend länger geworden und bezweifle, dass er sie im letzten Jahr überhaupt geschnitten hat.

"Das könnte ich dich aber auch fragen! Seit wann trägst du sie offen?"

"Tu ich eigentlich nicht, aber hier sieht mich eigentlich sowieso niemand", meine ich bloß schulterzuckend und versuche vergeblich meine Haare in ein Haargummi zu verbannen.

"Du solltest sie öfter so tragen, steht dir." Beinahe nebensächlich sagt er das, doch mir bedeutet es weitaus mehr. Schon als kleines Mädchen wollte ich ihm gefallen, einfach weil er eben mein großer Bruder ist, doch er war nie der Bruder, der seine kleine Schwester verteidigt wenn es nötig ist. Das lag vermutlich daran, dass in dieser Zeit Mom gestorben war und er all seine Kraft aufzubringen versuchte, um das zu verkraften.

"Alles okay?"

"Ja, ja ich habe nur... nachgedacht."

"Kommt ja auch nicht allzu häufig vor." Da ist er wieder, John, der immer einen gehässigen Kommentar auf Lager hat.

"Ha, ha", gebe ich nur sarkastisch zurück, daraufhin beginnen wir beide zu lachen. In einer beiläufigen Bewegung schwinge ich mich wueder auf den Felsen und werfe mein Haar über meine Schulter zurück, da der Wind es mir ins Gesicht getrieben hat.

"Ist Dad wieder mal auf dem Festland?"

"Ja. Bevor du fragst: ich habe keine Ahnung, wo genau er ist, aber er wird für etwa 2 Monate weg sein."

When the sun goes down *ON HOLD*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt