Kapitel 17 - Die Lichtung

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Wir essen in Stille. Suppe, ohne viel Gewürz. Danach teilen wir Youzies Vorräte gleichmäßig untereinander auf, Fleisch, Beeren, Salz und Brot. Mit all dem im Gepäck machen wir uns gemeinsam auf den Weg nach Hause.

Der Winter hält keine großartigen Überraschungen für mich bereit. Mal benutze ich den Schlitten, mal sitze ich zu Hause und zeichne. Es ist ungewohnt, auf einmal so viel Zeit zur Verfügung zu haben und sich nicht dauernd um die Beschaffung der Nahrungsmittel für zwei Personen kümmern zu müssen. So habe ich viel Freizeit und kaum etwas zu tun, außer das Eisloch im Fluss offen zu halten und jeden Tag etwas zu Essen zu kochen. Es ist kaum zu glauben, doch ich hätte gern ein bisschen mehr Arbeit - um mich nicht zu langweilen. Doch ich will zu dieser Jahreszeit keine großen Reisen machen, dafür ist der Sommer besser geeignet.

Ich warte also auf das Ende des Winters, bleibe daheim und gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach - Kunst. Und als der Frost verschwindet, packe ich meine Sachen.

Was ich vorhabe ist mit keinem richtigen Zweck verbunden. Ich will nur wieder etwas unternehmen, ein kleines Abenteuer erleben. Mein Ziel ist die Lichtung, an der ich vier Jahre zuvor von einem Hubschrauber des Staates verabschiedet wurde. Wo ich ausgesetzt wurde.

Ich weiß nicht mehr genau, wo diese Lichtung war, ich habe nur noch in Erinnerung, was ich gesehen habe und wie ich in Richtung Fluss gewandert bin, nachdem ich viele Tage auf einem Baum verbracht habe. Rückblickend kann ich nur über die Dinge lachen, die ich damals falsch gemacht habe. Wie ich auf einem Baum meinen gesamten Rucksackinhalt ausgepackt habe und zu faul war, die heruntergefallenen Streichhölzer wieder zu holen. So etwas würde mir heute nicht im Traum einfallen.

Ich peile die ungefähre Richtung mithilfe der Sonne an und wandere los. Ich weiß, dass es nicht einfach sein wird, die Lichtung zu finden, ich brauche eine Menge Glück. Doch warum es nicht einfach ausprobieren? Nachdem ich meine bekannten Jagdgründe verlassen habe, mache ich etwa alle 100 Meter eine Markierung an den Bäumen, damit ich weiß wo ich schon gesucht habe und im Notfall wieder nach Hause finde. Ich versuche, immer in dieselbe Richtung zu laufen. Am Nachmittag gehe ich etwas weiter nördlich zurück, weiterhin meine Markierungen machend.

Die Lichtung war nur einen Tagesmarsch von meinem Lager entfernt, theoretisch also nicht so weit. Ich muss die gesamte Gegend Strich für Strich absuchen, um den Platz zu finden. Als ich spät am Abend also wieder daheim bin ist es kein Wunder, dass ich nichts gefunden habe. Ich muss einfach hartnäckig weitersuchen. Das tue ich auch, gleich am nächsten Morgen mache ich mich wieder auf den Weg, ein bisschen weiter rechts dieses Mal. Beim Zurückgehen wieder ein Stück weiter weg.

So läuft das die nächsten Wochen. Meine Strecken werden länger, die Nächte kürzer. Immer weiter nördlich ohne fündig zu werden, danach weiter nach Süden. Irgendwann bemerke ich eine Baumgruppe, die mir bekannt vorkommt, aus schwacher Erinnerung. Dadurch ermutigt gehe ich weiter, suche die Gegend im Umkreis dieser Stelle genau ab. Irgendwo hier war die Lichtung, da bin ich mir sicher. Auf dem Weg zum Fluss bin ich an dieser Stelle vorbeigelaufen. Und tatsächlich, an folgenden Tag trete ich aus dem Dicklicht heraus auf den mir bekannten Ort.

Es hat sich nichts verändert. Ich finde sofort den Baum, auf dem ich tagelang gesessen bin, ich klettere auf den Platz, auf dem ich meine ersten Stunden in der Wildnis verbracht habe. Die Äste sind stärker und dicker geworden, die Stämme höher gewachsen. Doch ansonsten ist alles genauso wie zuvor.

Am Rand der Lichtung zünde ich ein Feuer an und brate etwas zu Essen. Ein kleiner Rest des Fleisches wird zum Köder hinter einer Falle, die ich für die Nacht aufstelle. Zum Schlafen klettere ich auf den alten Baum, auf dem ich wochenlang gelegen bin. Es ist genau wie damals. Ich muss an dem Abend viel lachen, über meine Unerfahrenheit zu Beginn. Was ich alles falsch gemacht habe, was ich alles noch nicht wusste.

Ich fühle mich stärker in die Vergangenheit zurückversetzt denn je. Stelle mir vor was wäre, wenn ich eines Tages, in einem anderen Zeitalter, meine sonderbare Geschichte erzählen müsste. Ich wüsste nicht recht, wo ich beginnen sollte. Vielleicht würde ich meinem alten Lehrer die Schuld für meine Lage geben. Sicher nur aus Spaß, dennoch: Wäre damals nicht passiert, was eben passiert ist, wäre ich mit Gewissheit nicht dort, wo ich jetzt bin. Hätte keine Bekanntschaft mit meinen sonderbaren Freunden gemacht, hätte nie erfahren, wie wenig ich von unserer diktatorischen Regierung abhängig bin. Ich bin froh, aus meinem alten Leben entkommen zu sein, froh, Präsident Caro nicht als Anführer sehen zu müssen. Ich bin mein eigener Anführer, mit Lucky als Partner.

Wer hätte gedacht, dass ein Staat, seit zweihundert Jahren existent, so leicht zu übertrumpfen ist? Gut, vielleicht nicht gerade übertrumpft, die Menschen nehmen ja an, ich sei schon längst gestorben. Bin ich aber nicht. Ich habe dem Präsidenten einen Strich durch die Rechnung gemacht und sollte er das jemals erfahren, bitte. Soll er kommen und versuchen mich zu finden. Ich habe Pfeil und Bogen. Was hast du? Eine Leibgarde, die mit schweren Pistolen wild in der Gegend herum schießt, wenn ihnen etwas nicht passt? Nur dass sie nicht einfach auf mich schießen können. Sie würden mich suchen und nicht finden, würden müde werden und sich in einem ungemütlichen Zeltlager schlafen legen, ich würde kommen und mich ohne jeglichen Laut heranpirschen, in die Zelte schleichen und Präsident Caro vernichten ohne dass es jemand bemerkt. Die Natur ist mein zu Hause geworden. Ich kenne sie wie meine Jackentasche, die aus selbst zusammen genähtem Leder, die wiederum aus selbst erlegten Tieren.

Ich bin eigentlich, wenn ich so darüber nachdenke, ein eher unnormaler Mensch. Ich liege hier in einem Schlafsack eingewickelt auf einem mir wohlbekannten Baum, sehe nach unten und beobachte wie mein mit Feuersteinen entfachtes Feuer zu Asche wird. Wie viele Menschen können sagen: „Ja, so ist das auch immer bei mir!" Wie viele Menschen würden mich nicht für geisteskrank halten, wenn ich ihnen von diesem Leben berichten würde? Nur sehr, sehr wenige.

Nichtsdestotrotz, ich liebe es. So ist es bei mir eben und so wird es vermutlich auch bleiben. Jeder hat seine Geschichte und das ist nun mal meine.

Und darum bin ich jetzt hier.

Allein.

Gut, Lucky streunt hier irgendwo noch in der Gegend herum, doch ich denke es ist verständlich was mir im Kopf herumschwirrt. Ich denke lange über all das nach, bis der Mond schon weit gewandert ist, dann schließlich fallen mir die Augen zu und ich schlafe ein.

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Als ich am nächsten Tag zurück nach Hause gehe, merke ich mir den Weg genau, damit ich vielleicht eines Tages noch einmal kommen kann.

Als ich daheim ankomme, schlafe ich zunächst eine Weile. Am nächsten Tag mache ich Essen, schnappe mir anschließend Pfeil und Bogen und gehe in den Wald um nach frischen Beeren zu suchen. Noch ist es vielleicht ein bisschen früh, doch ich suche trotzdem, denn meine Farben zum Malen sind den Winter über bis auf einen kleinen Rest verbraucht worden. Bis Nachmittags bin ich mit Lucky zusammen unterwegs, ich finde tatsächlich ein paar Materialien zum Malen. Sie waren im Feuchtgebiet auf der anderen Seite des Flusses, aus dem Saft von wachsenden Blüten, weiß, blau, rot und gelb. Blätter werde ich zu grüner Farbe verarbeiten, mit ein bisschen Wasser funktioniert das ganz gut.

Auf dem Rückweg höre ich ein merkwürdiges Geräusch. Wie von einer Maschine, ein dumpfes Brummen aus der Ferne. So schnell wie es gekommen ist, verschwindet es auch wieder, es ging nur für ein paar Minuten. Entweder ich habe ein Hirngespinst oder mein Ohr ist krank. Oder die Regierung hat wieder jemanden ausgesetzt, denke ich spaßeshalber.

Nichts davon ist richtig. Ich werde auch nie dazu kommen, aus meinen gesammelten Blättern und Blüten Farben zu machen. Das erkenne ich sehr schnell, schon nach etwa einer halben Stunde. Exakt zu dem Zeitpunkt, als ich wieder zum Fluss komme, meine kleine Brücke völlig schwarz ist und Rauch von ihr emporzüngelt. Ich bleibe stehen. Eine Flamme gleitet über die Halteleine, klein und unscheinbar. Wie in Zeitlupe bäumt sie sich ein wenig auf, ehe sie erstirbt und nur einen glühenden Fleck hinterlässt. Dann sehe ich auf, zur anderen Seite des Flusses. Ich erblicke mein Lager und ein Schock trifft mich. Ich sinke auf die Knie. Ich will schreien, doch als ich meinen Mund öffne, entweicht diesem kein einziger Ton.

Der Zaun aus den vielen Stöcken, der Unterschlupf vor der Feuerstelle und meine Blockhütte, die ich mit so viel Mühe erbaut habe. Verschwunden. Es ist nichts mehr davon zu sehen.

Nur ein Haufen Asche ist geblieben.

Das Leben der AliceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt