Das Mädchen vor den Schienen

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Jacob stand nicht auf Kitsch und das sah man ihm an. Er trug ganz und gar nur schwarz, nicht weil es irgendeinen Sinn machte, sondern einfach, weil ihm nichts sonst gefiel, (Ihm gefiel generell nicht so viel, vor allem in letzter Zeit nicht) seine Haare waren vom Regen durchnässt und durch das kurzweilige Tragen einer Kapuze – er hatte dann doch entschieden dem Regen standzuhalten – ganz zersaust. Als wäre ihm jemand mit den Händen durchgefahren, aber er stand nicht auf Körperkontakt. Was weiter nicht schlimm war, denn Körperkontakt stand auch nicht besonders auf ihn, besonders der seiner weiblichen Mitmenschen. Seine Mutter nannte ihn einen Sonderling und das war er auch, durch und durch sogar. Passend dazu trug er eine dieser billigen Souvenir-Hundemarken mit der Aufschrift Freak um den Hals, als wäre er stolz darauf komisch angestarrt zu werden. Im Grunde genommen, war es ihm völlig gleichgültig. Behauptete er zumindest. Und doch war er psychisch angekratzt oder instabil oder was auch immer. Vielleicht deshalb oder vielleicht gerade weil ihn bis auf ein paar alles-schlecht-machende Punk-Bands absolut gar nichts zu interessieren schien und weil er wie schon erwähnt absolut nicht auf Kitsch stand, lief er gerade die versifft klebrigen Treppen der Michigan Avenue U-Bahnstation herunter – mit einer nicht ganz so rosigen Absicht wohlgemerkt. Und nicht um eine Bahn zu nehmen natürlich. Missmutig nach unten starrend schlenderte er den Bahnsteig entlang bis ans Ende des betretbaren Bereiches. Von dort aus haftete sich sein Blick wie festgenagelt an der Zuganzeigetafel, die von der Decke herunter hing. 4 Min - U4 Center Park blinkte abwechselnd mit aktueller Zeit und Datum in eckigen Buchstaben. An einen der großen Pfeiler gelehnt atmete er tief durch bevor er zum großen Sprung ansetzen wollte. Er war fast soweit, als er das Husten eines Mannes wahrnahm. Es war spät abends und außer ihm war gewöhnlicher Weise niemand so spät hier. (Er hatte das die letzten Tage über mehrmals abgecheckt.) Der Junge schielte am Pfeiler vorbei auf den Anfang des Bahnsteigs vor den Treppen nach oben. Seine müden Augen erfassten das Bild eines vornehm gekleideten Mannes, der wie gebannt auf seine Armbanduhr starrte.  Er schien eine Art Augenklappe auf einer Seite seines faltigen Gesichtes zu tragen, aber Jacob konnte nur die groben Züge erkennen. Er klammerte sich an die Ecke des Pfeilers und beobachtete heimlich wie hinter dem Mann ein dürres, blondes Mädchen zum Vorschein kam, das starr vor dem Gleis stand. Wie in Trance bewegte sich das Mädchen in kleinen Schritten auf die Schienen zu. Der Mann hielt sie grob an der Schulter zurück, als sie fast herunterzustürzen schien. Jacob atmete so leise er konnte, doch sein Herz raste schneller als jemals zuvor. 1 Min - U4 Center Park. Das Echo des heranfahrenden Zuges war schon durch den Tunnel zu hören, als der Mann, dessen Hand noch immer die Schulter des Mädchens griff, seinen Blick von der Uhr hob. Die Lichter des Zuges warfen große Kegel in den sperrlich belichteten Raum, als er mit rasendem Tempo näher kam. Und das Zischen der Räder auf den Schienen schmerzte in Jacobs Ohren. Er wollte gerade trotz der Tatsache, dass er nicht allein war, zum Sprung ansetzen, als er plötzlich einen spitzen Schrei hörte. Einen spitzen, weiblichen Schrei. Er lehnte sich erneut an den Pfeiler um Ausschau zu halten, doch erblickte nur gerade so noch die rennenden Beine des Mannes, der die Station nun über die Treppe verlies – allein wohlgemerkt. Und erst da wurde Jacob bewusst welch grausamer Tat er gerade Zeuge geworden war. Erst als die Bahn endlich stand und von dem Mädchen jede Spur fehlte, als niemand aus dem Zug ausstieg und er die vielen kleinen Blutspritzer an der Bahnsteigkante entdeckte, da dämmerte es ihm. Unzählige Gedanken kreisten ihm durch den Kopf. Unüberlegt und in völliger Atemnot rannte er los. Die Treppe rauf und nichts wie weg.

***

Im Fernsehen lief nur dummes Zeug, aber er wusste sich nicht anders abzulenken. Also schaltete er ziellos durch Kanäle. Der Mischmasch aus einzelnen Gesprächsfetzen füllte den sonst so klangkargen Raum mit ungewöhnlich viel Leben. Eigentlich konnte er bloß nicht schlafen. Eigentlich konnte er es bloß nicht hinter sich lassen. Und da war sie plötzlich wieder. Die unbekannte Blondine. Kurz dachte er ihr Gesicht zwischen den Bilder erblickt zu haben. Vermutlich nur eine Einbildung seiner lebhaften Fantasie. Dennoch schaltete er langsam zurück. Und tatsächlich entdeckte er auf einem der Kanäle das Gesicht wieder, das er zuvor nur anhand des Seitenprofils erahnen konnte.

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