Die erste Mondblume

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Ich weiß nicht genau wie lange ich hier schon liege. Ich weiß nur, dass ich fürchterlich müde bin und am liebsten an Ort und Stelle wieder einschlafen möchte. Aber ich muss aufstehen und zur Schule gehen. Und bevor ich das tue muss ich erst mal zur Hütte zurück laufen, wobei ich keine Ahnung habe wie weit diese entfernt ist, und mir den Dreck vom Waldboden abwaschen. Ich muss mich zu Recht machen, sodass es aussieht als wäre ich ein ganz normaler Teenager, der die ganze Nacht durch geschlafen hat.
Aber gerade kann ich mich einfach nicht dazu aufraffen. All meine Knochen schmerzen und mein Kopf ist blei schwer. Also bleibe ich so liegen wie ich bin –nackt- und atme tief den Geruch nach Moos und Kiefern ein. Und frischem Tau. Ein und aus, während ich spüre wie die Sonne langsam aufgeht und meinen Körper aufwärmt... mir wieder Energie spendet. Es ist schön zu spüren wie der Wald aufwacht. Zuerst sind da die Vögel, die in ihren Nestern erwachen. Fröhlich beginnen sie nach und nach eine Melodie an zu stimmen, die den ganzen Ort mit Leben erfüllt. Dann ist dort die Sonne. Erst wird es nur ein wenig hell. Die letzten Sterne verblassen und Umrisse werden schärfer, Schatten schwinden. Und dann geht die Sonne über dem Horizont auf. Klar, durch die ganzen Bäume sieht man die Sonne nicht, aber ein paar Strahlen finden ihren Weg zu mir. Und je höher die Sonne steigt desto mehr Strahlen fallen auf mich und wärmen mich. Ich höre die kleinen Tiere im Gebüsch rascheln und rekeln, wie sie sich auf die Suche nach Essbarem machen. Direkt vor meinem Gesicht wächst eine Mondblume. Blau und schillernd steht sie dort und schließt ihre Blüten, jetzt wo der Mond fort ist.
Langsam weicht das klamme Gefühl aus meinen Knochen und endlich fühle ich etwas anderes außer Schmerz und Benommenheit. Durst. Vorsichtig raffe ich mich auf. Ich muss die Zähne zusammen beißen um nicht auf zu stöhnen. Es fühlt sich an, als würden die Knochen aneinander reiben und meine Gedärme sich gleich umdrehen. Aber dieses Gefühl kenne ich gut. Das ist nichts Neues. Also versuche ich mich zusammen zu reißen, auch wenn es jedes Mal genau so schlimm ist, und stehe schwankend auf. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und blicke mich um, versuche zu erkennen in welchem Waldgebiet ich mich befinde. Und ich habe Glück, ich bin nicht weit entfernt von der Hütte. Gerade mal eine halbe Stunde Marsch. Manchmal, vor allem als ich noch jünger war, kam es vor das ich ganze zwei Stunden zurück laufen musste. Manchmal wusste ich nicht mal wo ich mich befand und musste dann versuchen mich zu erinnern was in der vergangenen Nacht geschehen war. Für gewöhnlich vermeiden wir es Erinnerungen an die Vollmondnächte zu erwecken. Das tut nur fürchterlich weh und funktionierte oftmals nicht einmal. Aber dazu bestand, Himmel sei Dank, schon länger keine Notwendigkeit mehr. Ich entfernte mich inzwischen nicht mehr aus unserem Revier um auf Entdeckungstour zu gehen.
Als ich an der Hütte ankomme, sind meine Beine abgefroren und ich zittere am ganzen Körper. Mein Onkel Dan wartet bereits mit einer Decke vorm Eingang und wickelt mich fest darin ein.
„Alles okey? Du musstest nicht allzu weit laufen?", frägt er mich besorgt, während er mich in die warme Hütte hinein schiebt.
„Alles in Ordnung. Ich wünschte nur ich würde noch in der Nacht zurück kehren, so wie du", seufze ich und strecke meine Hände dem heißen Ofen entgegen. Ein wohliger Schauer durch fährt mich.
„Jahrelange Erfahrung, mein Engel. Irgendwann wird der Wolf so sehr ein Teil von dir sein, dass eure Gedanken, Wünsche und Ziele dieselben sein werden", belehrte Dan mich. Und ich entgegne, wie jedes Mal, verbittert: „ Wir werden nie ein Teil sein."
Und während ich zum Bad laufe um endlich unter die warme Dusche zu springen und mir den Dreck von letzter Nacht ab zu waschen, ruft er mir wie immer hinter her: „Der erste Schritt ist euch als eine Person an zusehen."

Das ist immer der beste Teil. Das Duschen. Du spürst wie der ganze Dreck von dir abfällt und irgendwie ist es auch als ob alle Gefühle, Empfindungen und die letzten verschwommenen Erinnerungen der vergangenen Nacht mit im Abfluss verschwinden. Wieder ein Monat Ruhe. Und wenn ich aus der Dusche steige mich in mein Handtuch hülle und in den Spiegel sehe, denke ich, das hier bin nur noch ich. Dieses Mädchen, mit den müden blauen Augen und den nassen schwarzen Haaren, ist nur noch ich. Eliana Wind, wie sie leibt und lebt. Zaghaft lächelt mir das Mädchen im Spiegel entgegen.

„War es arg schlimm gestern?", frägt mich Vivi mitfühlend. Viviane Evans ist meine beste Freundin und eine abgedrehte Schrulle. Sie kennt sich hervorragend mit Schauspielern und heißen Popsängern aus und wer mit wem zurzeit an der Schule was hat. Sie liebt Klatsch, ist in Mathe ein Aas und außerdem die einzige Person, außerhalb meines Rudels und dem mickrigen Rest meiner verbliebenen Familie, die von meinem Geheimnis Bescheid weiß.
„Es ging", antworte ich ausweichend. Weil Vivi mich darauf hin prüfend ansieht, fährt sie fast gegen eine Mülltonne und ich beginne laut zu lachen. „Nicht witzig", schnaubt sie und beginnt dann wieder mit dem Versuch so langsam zu radeln wie ich laufe. Und weil ich wirklich langsam laufe, da meine Knochen immer noch bei jeder Bewegung schmerzen, schwankt sie wie eine Betrunkene auf dem Fahrrad und verliert ständig fast das Gleichgewicht. Das hält sie jedoch nicht davon ab mir von den neusten Gerüchten, die übers Wochenende entstanden waren, zu erzählen. Zum einem hätten wir da ein frisch getrenntes Pärchen und ein Pärchen, das neu zusammen gekommen war, wobei eine Person sowohl zu dem frisch getrenntem, wie auch zu dem neu zusammen gekommenen Pärchen gehörte. Eine klasse Party die am Samstag beim Footballstar der Schule gestiegen war und...
„Wir kriegen tatsächlich einen Neuen!", rief Vivi enthusiastisch, während sie ihr Fahrrad abschloss.
„Ach ja?", fragte ich eher mäßig interessiert, was mir einen zornigen Blick von Vivi einbrachte.
„Ja! Endlich passiert wieder was Aufregendes in unserem verschlafenen Dorf... Das letze mal als etwas Spannendes passiert ist, war als Jessica Filbert herausgefunden hat das Tommy Jackson neben ihr noch drei andere Freundinnen hatte und sie ihm daraufhin so derbe eine geklatscht hatte, dass man den Abdruck noch zwei Wochen lang später gesehen hatte" Dabei blickte sie mich so freudig an, als erwarte sie, dass ich gleich Luftsprünge machen würde. Aber das ließ ich erstens bleiben weil mir die letzte Nacht immer noch in den Knochen steckte, zweitens das sowieso nicht mein Ding ist und drittens der Direktor gerade im Anmarsch war... und er steuerte direkt uns an.
„Meine Damen", begrüßte er uns und verschüchtert sagten wir: „Guten Morgen, Sir." Unser Direktor war ein riesiger Mann mit einem gewissen Bauchumpfang. Mit seiner dunklen Stimme und dem gigantischen Bart hatte er etwas Einschüchterndes.
„Darf ich euch vorstellen. Das ist Jan Kandler. Er ist gerade aus London zu uns hergezogen und geht ab heute auf unsere Schule."
Erst jetzt fiel mir der Junge auf der neben dem Direktor stand. Kein Wunder dass ich ihn nicht bemerkt hatte, neben dem riesigen und imposanten Direktor geht jeder unter. Selbst wenn Jan sich beim näheren Betrachten als ein recht attraktiver Junge herausstellte.
Oder wie Vivi sagen würde: „Der ist heiß", was sie mir auch Sekunden später ins Ohr flüsterte.
Recht hatte sie, er war wirklich unheimlich süß mit diesen grünen Augen und den verstrubelten dunkelbraunen Haaren. Und wie er so da stand und uns zaghaft anlächelte, löste er irgendetwas in mir aus, das ich nicht zuordnen konnte.
Vivi hatte sich recht schnell gefangen und grinste hochmütig, während sie seine Hand mit den Worten: „Schön dich kennen zu lernen, Viviane Evans", schüttelte. Er grinste zurück und fixierte dann mich mit seinem Blick. „Und du bist?", fragte er neugierig. „Eliana", sagte ich kühl, obwohl ich innerlich zu verglühen schien unter seinen forschenden Blick. Auf einmal hatte ich ganz fürchterliche Angst er könnte hinter mein Geheimnis kommen, wenn er mir nur weiterhin in die Augen sehen würde, weshalb ich den Blick senkte. Viviane blickte mich prüfend an und lächelte dann leicht.
„Ich habe mir gedacht, Vivane, sie könnten unseren neuen Schüler durch die Schule führen und ihm erläutern wie die Sachen hier bei uns laufen. Immerhin sind sie unsere beste Schülerin und es ist nicht besonders schlimm wenn sie ein paar Unterrichtseinheiten verpassen", wohlwollend blickte er sie an. Vivi war nicht nur ein Aas in Mathe, sondern stand auch in den anderen Fächern in etwa so auf schätzungsweise einer eins. Mit Sternchen. Ach was mit drei Sternchen. Zudem war sie auch sozial engagiert und spielte Geige. Stirnrunzelnd stellte ich fest dass es mich nicht so hätte überraschen dürfen, dass Vivi bereits nach einem halben Jahr hinter mein Geheimnis gekommen war.
„Klar", strahlte Vivi und hatte bereits den ahnungslosen Jan gepackt und mit gezehrt. Der Arme hatte keine Ahnung was ihm da blühte.
Nachdenklich blickte ich ihnen nach und vergaß dabei völlig den Direktor der mich immer noch forschend an blickte. Erst als er wieder sprach, erinnerte ich mich wieder an seine Anwesenheit.
„Miss Wind, Sie sind doch nicht wieder erkrankt?", fragte er mich besorgt und betrachtete mich dabei eingehend. „Mir ist nur ein wenig unwohl, Sir", entgegnete ich.
„Vielleicht sollten sie besser nach Hause gehen. Sie sind so blass. Als würden sie jeden Moment umkippen."
„Es geht schon", wiedersprach ich und verabschiedete mich dann schnell, da es zum Unterricht schellte. Dass er mir kopfschüttelnd hinter her blickte und flüsterte: „Nicht dass das arme Kind endet wie ihre Eltern", hörte ich sehr wohl noch.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 16, 2015 ⏰

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