Niemand darf es wissen oder ahnen. Das sogenannte Säuberungsprogramm der Nazis muss so unauffällig wie möglich erfolgen. Das gilt insbesondere für die einheimische Bevölkerung. So wurden Eisenbahntrassen errichtet, die an großen Städten vorbei führen. Eine eingleisige Strecke führt direkt kurz vor München vor der Mülldeponie in Puchheim entlang am Gut Roggenstein, der kleinen Gemeinde Olching und dem Kleinen Olchinger See zur Verbindung nach Dachau. Deutschen hassen die Juden, aber trotzdem möchten die wenigstens von ihnen wissen, was die Regierung mit den Juden in Deutschland und in den besetzen Gebieten macht: Sie dürfen nicht mehr arbeiten, nicht mehr da wohnen, wo sie wollen, nicht mehr ihrer Religion nachgehen, sich nicht mehr treffen und am Ende einfach nicht mehr leben. Dafür wurden sie geschaffen - die Konzentrationslager überall. Wenn diese Juden nichts mehr haben, weil sie einfach schon keinen Lebensunterhalt mehr haben, nimmt man ihnen den Rest - ihre Menora, ihre Mesusa, ihre Fotos und Erinnerungen, trennt sie von ihren Familien, nimmt ihnen die Kinder und dann auf der letzten Fahrt auch Kleidung, Brillen und Zahnersatz.
Eines der Konzentrationslager ist in Dachau in der Nähe von München. Es ist eigentlich DAS Konzentrationslager, weil es das erste ist und jeder potentielle Lagerkommandant eines anderen Lagers wird hier ausgebildet. Dachau ist kein Vernichtungslager. Hier müssen die Insassen arbeiten, wenn sie halbwegs gesund sind. Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich hier zu sterben. Viele Krankheiten treten auf, Ärzte experimentieren mit den menschlichen Körpern und die Arbeit ist nicht leicht. Sterben ist an der Tagesordnung. Sterben gehört einfach dazu. Für die Juden, die hier in Dachau ankommen, ist das Leben nur noch ein weiterer Besitz, den man ihnen früher oder später nehmen wird.
Die Deutsche Reichsbahn ist ein guter Kunde für die Deportationen. Sie stellen die Züge und fahren mit ihrem Personal von allen Ecken Deutschlands und den besetzten Gebieten zu den Gleisanschlüssen der KZ's. Jeder Fahrgast zahlt dafür eine Fahrkarte selbst. Es ist nur eine Hinfahrkarte. Die Züge haben sogar einen Fahrplan, weil immer wieder "Fahrgäste" an den Abfahrorten zu finden sind. Einmal jede Woche fährt auch ein Zug mit Viehwaggons vom Bodensee nach Dachau. Der Zug ist immer voll. Nicht alle bleiben in Dachau. Einige werden dann weitergeleitet in kleinere Lager. Aber das spielt am Ende keine Rolle.
Es hat lange gedauert. Für Johan und seine Frau sah es sogar so aus, als wenn sie verschont werden. Das Modeatelier, welches er von seinem Vater übernommen hatte, hatte man ihm bereits früh enteignet. Zuerst waren es Schmierereien wie "Kauf nicht beim Juden ein!". Dann bekam er Auflagen, nicht mehr bei anderen Juden seine Stoffe zu kaufen. Er schmuggelte alles aus der Schweiz, sogar das Nähgarn. Die Juden, die er kannte, wollten immer gut gekleidet sein, so dass er weiterhin gut zu tun hatte. Bezahlt wurde nicht mehr mit Geld, sondern mit Gefallen und Gebrauchsgütern. Später stürmte die SS seinen Laden, zerstörte alle Ausstellungsstücke und verboten ihm, das Geschäft weiter zu betreiben.
Geh in die Schweiz! Seine Eltern redeten mit Engelszungen auf ihn ein. Aber Johan fühlt sich als Deutscher und legt nie viel Wert auf die jüdischen Traditionen. Er wollte hier leben mit seiner wunderschönen Frau.
Dann kam der erste Horrortag - seine Eltern wurden abgeholt. Seitdem sie weg sind, hatte er nichts mehr von Ihnen gehört. Er war vorher nie ohne seine Eltern. Niemand hat mehr irgendetwas von jemanden gehört, der abgeholt wurde. Es gibt viele Gerüchte, aber keine dieser Vermutung sind angenehm. Johan war und ist verzweifelt.
Er musste arbeiten. Er hatte in seine Wohnung einige wenige Hilfsmittel gerettet, so dass er wenigstens noch nähen konnte: eine Nähmaschine, Garn, Nadeln, Schere, Maßband, Stoffreste. Alles hat er gut verstaut in einem alten Koffer, falls die SS plötzlich Hausdurchsuchungen macht. Und er hatte wieder gut zu tun: die verbliebenen Juden könnten keine neuen Kleider mehr kaufen, mussten alte flicken und reparieren lassen. Das machte Johan jetzt vor allem nachts. Offiziell durfte er nicht arbeiten. Niemand durfte einen Juden einstellen.
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Zeit gegen das Vergessen - Lost in remember
General FictionEin erfülltes Leben ist voller Kurzgeschichten und Stoff für Romane. Der Mann hat viel erlebt und erinnert sich in seinen Träumen. Aber so wie Träume sind, spiegeln sie nicht nur die Realität wieder, sondern sind vermischt mit blumigen Ergänzungen...