Heute

2 1 1
                                    

Heute

"Alles Weitere erklärt Ihnen jetzt Frau Cita, der neue Project Lead!"

Die Worte holen sie in die Gegenwart zurück. Sie blinzelt kurz verwirrt und orientiert sich. Der große Besprechungsraum. Sie sitzt am Kopf des langgezogenen Holztisches. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Links von ihr steht der Geschäftsführer, ihr langjähriger Schulfreund Rolf, und wartet darauf, dass auch sie sich endlich erhebt. "Du bist dran!" zischt er ihr zu, doch sie braucht noch ein paar Sekunden, um wieder zu sich kommen. Langsam steht sie auf und lächelt die Anwesenden an. Ihr Spiegelbild zeigt ihr, wie unsicher sie dabei auf alle wirken muss. Reiß dich zusammen! Das ist DEIN Tag heute! Sie streicht sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht und holt noch einmal tief Luft. Jetzt ist sie wieder völlig klar im Kopf.

"Als Erstes vergessen Sie alle mal das 'Frau Cita'! Ich bin Sophie und ich hoffe sehr, dass wir mit unseren Vornamen auskommen. Höfliche Distanz wahren können wir gegenüber unseren Kunden. Wir hier sind ein Team! Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen! Wer damit ein Problem hat, und das meine ich nicht böse, sollte jetzt aufstehen und den Raum verlassen. In meinem Team ist kein Platz für Egoismus. Egoismus kostet Zeit! Egoismus kostet Geld! Egoismus schadet der Stimmung! Und ganz ehrlich: Wir können uns keine schlechte Stimmung leisten. Das ist das größte Projekt, das unsere Firma je an Land gezogen hat. Wir erschließen damit wichtige neue Märkte, neue Kunden, neues Geld. Geld das für uns alle gute Gehälter und Boni bedeutet, Kunden und Märkte, die uns garantieren, dass das auch die nächsten Jahre so bleiben wird. Ein erfolgreicher Projektabschluss ist dafür natürlich Voraussetzung. Irgendwelche Fragen? Fühlt sich irgendjemand jetzt schon nicht geeignet für unser Team?" Gespannt blickte sie in die Runde. Die anderen klebten ihr regelrecht an den Lippen und auch bei Rolf hatten sich die Gesichtszüge merklich entspannt.

"Ihr alle habt meinen vermeintlichen Aussetzer vorhin mitbekommen. In diesem Team hat jeder das Recht auf Aussetzer. Wir alle werden Höchstleistungen bringen müssen, weit über das bisher gewohnte hinaus. Ich bin Realist. Fehler sind blöd, aber sie werden passieren. Aber ich will nie erleben, dass irgendeiner so hängen gelassen wird, wie ich vorhin. Lasst euch was einfallen! Erfindet neue Informationen, neue oder geänderte Tagesordnungen, was auch immer, aber opfert nie, NIEMALS, ein Teammitglied. Schaut euch um. Für die nächsten sechs Monate ist das hier eure Familie. Eure besten Freunden sitzen in diesem Raum. Wir alle werden Opfer bringen. Wir werden arbeiten bis zum Umfallen, um die Termine zu halten. Wir werden Überstunden ansammeln und auf Freizeit verzichten! Aber das ist es wert, das verspreche ich euch. In sechs Monaten werden wir in Geld schwimmen und das wird euch für alles entschädigen! Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile! Das habe ich von meinem Vater gelernt. Und seht wie weit es mich gebracht! Jetzt liegt es an euch. Seid ihr lieber ein Teil von etwas Großem, oder weiter ein kleiner Einzelgänger? Eure Entscheidung. Wenn keine weiteren Fragen sind, bleibt mir nur noch eins zu sagen: 'Willkommen im Team!'" Jubel und Applaus erfüllte den Raum. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihr Team an Board, war mit sich und der Welt zufrieden. Das würde groß werden. Ganz groß.

Der Jubel legte sich langsam und alle schauten sie erwartungsvoll an. Ganz schüchtern hob sich eine Hand, so unauffällig und unsicher, dass sie beinahe ihrer Wahrnehmung entgangen wäre. "Nicht so schüchtern! Steh ruhig auf, damit wir dich alle gut sehen und verstehen können. Wie heißt du?" versuchte sie der Schüchternheit entgegen zu wirken.

Ganz langsam erhob sich das zierliche Persönchen. "Hi. Ich bin Julia. Und ich möchte dir sehr für deine mitreißende Rede danken, Sophie. Sie war wirklich sehr inspirierend." Sophie genoss das sichtlich. "Allerdings", fuhr Julia fort, "muss ich leider passen. Ihr werdet das ohne mich hinkriegen müssen." Damit hatte Sophie nicht gerechnet. Unsicher schaute sie zu Rolf, der allerdings auch nur überrascht und fragend zurück starrte. Das war eigentlich nicht möglich. Sie hatten die Teammitglieder gemeinsam ausgewählt. Keiner der Anwesenden konnte es sich leisten, die Arbeit an diesem Projekt abzulehnen. Das war, neben der fachlichen Qualifikation natürlich, der springende Punkt bei der Zusammenstellung des Team gewesen.

"Könntest du uns die Gründe für deine Entscheidung erläutern?" fragte sie daher um etwas Zeit zu gewinnen.

"Sicher! Ausschlaggebend war deine Rede. Wie gesagt, sie hat mich wirklich inspiriert." Das verwirrte Sophie noch mehr.

"Meine Rede?"

"Ja klar! Du hast soviel Wert auf das Team gelegt, dass mich das zum Nachdenken gebracht hat. Bis heute wollte ich unbedingt bei diesem Projekt mitarbeiten. Ihr beiden wisst sicherlich, dass ich das Geld ziemlich gut gebrauchen könnte. Bestimmt habt ihr eure Hausaufgaben gemacht."

"Aber?"

"Aber es ist einfach nicht der richtige Weg, das hast du mir deutlich gemacht. Ich habe schon ein Team, dem ich all das versprochen habe, was du von uns erwartest. Und ich kann unmöglich gleichzeitig in zwei konkurrierenden Teams spielen. Tut mir leid, aber zu Hause warten mein Mann und mein vierjähriger Sohn auf mich. Sie zählen auf mich, sie verlassen sich auf mich, sie brauchen mich. Ein Team funktioniert nur, wenn jeder seinen Part übernimmt, in dem Bewusstsein, dass für jeden anderen auch das Team das Wichtigste ist. Wie könnte ich da guten Gewissens für mindestens sechs Monate so tun, als wäre das nur wichtig, wenn man genug Geld hat? Ich kann meinem Sohn nicht erklären, dass es etwas so Wichtiges gibt, dass ich ihn ein halbes Jahr nicht ins Bett bringen oder mit ihm spielen kann. Mein Mann würde es natürlich verstehen, aber es wäre nicht richtig. Das ist mir jetzt klar geworden. Deshalb bin ich raus. Aber ich wünsche euch natürlich allen viel Erfolg." Bevor jemand etwas dazu sagen konnte verließ sie den Raum. Sophie sah ihr nachdenklich hinterher.

In dieser Nacht schlief sie nicht sonderlich gut. Rolf bemühte sich zwar redlich sie zu wärmen, doch tief in ihrem Inneren verspürte sie eine Kälte, der seine Nähe nichts entgegen zu setzen hatte. Da war keine Geborgenheit, keine Sicherheit, nur Leere. Sophie kannte dieses Gefühl. Sie hatte es tief in sich vergraben, doch jetzt bahnte es sich seinen Weg in ihre Träume. Versetzte sie zurück in die Zeit, als ihr Vater ihr eröffnete, dass er zukünftig woanders wohnen würde. Natürlich würde sie ihn jederzeit besuchen können. Und er war sich sicher, dass sie sich mit Maria gut verstehen würde. Alles würde sogar besser werden. Zusätzlich zu Mama und Papa hätte sie jetzt noch Marie und eine zweite Wohnung. Viel mehr als vorher. Das hatte ihr Vater ihr lächelnd verkündet, während Mama weinend in der Küche saß. "Aber das Team!" hatte sie ihm leise hinterher geflüstert, als er gegangen war. "Das Team, Papa! Was ist mit unserem Team? Ich dachte wir sind ein Team ... "

Verwirrt wachte sie auf und befreite sich aus den Armen ihres Schulfreundes. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, hier zu sein. Auf dem Weg ins Badezimmer holte sie ihr Portemonnaie aus ihrer Handtasche und setzte sich auf den Badewannenrand. Vorsichtig zog sie das Foto heraus und strich es glatt. Wie lange hatte sie es nicht mehr angeschaut? Wie alte mochte er inzwischen sein? Sophie konnte sich nicht erinnern. WIe es ihnen wohl ging? Tränen bahnten sich ihren Weg, als sie leise schluchzend das Bild auf die Ablage des Spiegelschranks legte und zurück ins Bett ging. Vorsichtig kuschelte sie sich noch einmal an Rolf. Sophie hatte eine Entscheidung getroffen. 

Wir sind ein TeamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt