„Kannst du mir bitte helfen?"
In einer Großstadt begegnet man vielen unterschiedlichen Menschen. Natürlich ist jeder von diesen auf seine eigene Art und Weise einzigartig, keine Frage. Aber Menschen kann man in zwei oder drei Gruppen einteilen.Die mit einem guten Willen, die niemanden was schlechtes tun oder überhaupt daran denken würden. Die für alles und jeden Gutes wünschen.
Die mit einem schlechten Willen, die in schlechten und bösen Gedanken schwimmen und dann die Neutralen. Die sind eben neutral, leben für sich.
Aus irgendeinem Grund war ich ein Magnet für die zweite Gruppe.Gerade jemand wie ich, schwach, dumm, naiv sollte die Begegnung mit solchen Menschen verhindern.
" Kannst du mir bitte helfen?"
Ein Mann, ich würde schätzen Mitte 30. Er war groß und hatte einen Schnurrbart. Er lächelte mich höfflich an. Ich könnte meinen, er gehört zu den Menschen der ersten Gruppe an, weil er so nett ausschaute.
"Wobei brauchen sie den Hilfe?", fragte ich, nachdem ich ihn lange genug bemustert hatte.
Als er bemerkte, dass er meine Aufmerksamkeit hatte, wurde sein Lächeln breiter. Ob ihn die Menschen vor mir wohl einfach ignoriert hatten? Jedoch merkte ich, dass es schon dunkel war. Die Strassen waren so gut wie leer, nur ein Paar Jugendliche , die wahrscheinlich Geschäfte machten, waren zu sehen.
" Ich hab es sehr sehr eilig und habe dort drüben, glaube ich, meine Schlüssel fallen lassen, aber finde sie nicht, da die Laterne dort nicht beleuchtet."
Ich hätte Fragen können, ob er nicht ein Handy hätte mit der Taschenlampe-Funktion.
Ich hätte sagen können, dass ich es selber auch eilig hatte.
Ich hätte so vieles machen können oder müssen, aber ich habe dem Mann geglaubt und habe ihn bis zur Gasse begleitet. Das es sich bei seinem Lächeln um ein Falsches gehandelt hat, brauche ich bestimmt nicht erwähnen. In der Gasse angekommen holte ich mein Handy raus, um etwas sehen zu können. In dem Moment presste er mich gegen die Wand.
"Nefes Karagül?"
Ich erstarrte und konnte nicht antworten. Er presste mich fester gegen die Wand.
"Nefes senmisin?"(Bist du Nefes?) Ich nickte langsam mit meinem Kopf, während sich Tränen in meinen Augen ansammelten. Bleib einmal stark Nefes, einmal.
"Dann ist Mehmet dein Onkel?"
Es klang er wie eine Aussage als wie eine Frage. Er ist nicht mein Onkel. Er ist Iblis höchstpersönlich. Als ich ihm wieder nicht antwortete presste er mit seiner harten Hand mein Gesicht zusammen und schlug meinen Schädel gegen die Wand. Für einen Moment fühlte es sich so an als wäre ich wieder sieben. Die Tränen flossen heraus, aber ich schluchzte nicht. Ich konnte überhaupt kein Geräusch gerade raus bringen. Mein Blickfeld war verzerrt, mein Kopf brummte und ich versuchte zu verstehen was gerade passierte. Aber er ließ mich nicht lange nachdenken, sondern hob mich wieder hoch und stellte mir die Frage noch einmal.
"J-ja, wer bist du?"
Sein Griff lockerte sich und er ging einen Schritt zurück, um mich zu bemustern. Sein aggressiver Blick änderte sich zu einem Grinsen. Einem frechen Grinsen, welches ich von früher kannte. Während er mich ansah, suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit. In dieser Gasse war nicht außer ein paar Mülltonnen. Damit ich mehr Zeit zum Suchen hatte, fragte ich ihn was er wollte und woher er meinen Onkel kannte.
"Mein Vater kannte ihn", fing er an zu erzählen, während ich merkte, dass sein Blick auf meine Oberweite fiel.
"Er hatte wohl einige Probleme, brauchte wohl immer Geld , weil sein Bruder , dein Vater, seine zwei Töchter bei ihm abgelassen habe." Ach echt, erzähl mir mal was neues. Immer noch suchte ich nach irgendetwas hartem oder scharfem.
"Kurz gefasst er wurde entlassen und schuldet meinem Vater eine Menge Geld, aber dass er seine Schulden nicht begleichen kann, wusste er. Darum hat er dich.."
"Er hat mich verkauft?", ich hoffte, dass ich nur rumalberte und er Nein sagen würde, aber er nickte nur während sein Blick meinen Körper runter wanderte. Mich verkauft, als wäre ich ein Gegenstand oder eine Nutte? Als würde er über mich verfügen. All die Zeit hatte ich meine Ruhe vor ihm und jetzt kommt er so an? Wie konnte es sein, dass er entlassen wurde? Nicht einmal ein Raubkopierer kommt in so einer kurzen Zeit wieder raus, ist denen einen Menschenleben echt so wenig wert? Ich hatte so viele Fragen und Gedanken in meinem Kopf, aber am wichtigsten war es, dass ich hier erstmal entkomme. Mein Blick fiel in die Mülltonne. Irgendetwas musste doch darin sein, womit ich ihn irgendwie verletzen konnte.
"Schämst du dich nicht, so ein Angebot zu akzeptieren? Ich bin 19 verdammt!", ich wollte ihn provozieren. Wenn er keine hektischen Bewegungen macht, wäre eine Bewegung von mir zu auffällig.
"Für 19 siehst du aber ganz schön älter, weiter entwickelter aus."
"Du bist widerlich!"
Er kam näher und wollte mich wahrscheinlich wieder gegen die Wand pressen, doch ich entwich und ging auf die andere Seite, wo auch die Mülltonne stand.
"Ich bin Hakan und du gehörst bald mir, also pass lieber auf was du jetzt sagst, sonst werde ich dich später hart bestrafen!"
Ich lachte extra provokant, was ihn sichtlich sehr aufregte. Er kam mir wieder einmal näher und hob seine Hand. In dieser Sekunde griff ich in die Mülltonne, nahm das erste, was mir entgegenkam in die Hand und schlug damit fest auf seinen Kopf. Glücklicherweise handelte es sich um eine Glasflasche, die an seinem Glatzkopf zerbrochen war. Ja er hatte mehr Haare in seinem Gesicht, als auf dem Kopf. Langsam fiel er zu Boden. Mit langsamen Schritten, hob ich erst mein Handy vom Boden auf und verließ die Gasse, mein Blick wendete sich nicht von ihm.
„War er tot? Nein bestimmt nicht!",hoffte ich innerlich. Ich wollte keine Mörderin sein.
Als ich feststellte, dass er nicht mehr aufstand und ich die Gasse verlassen hatte, fing ich an zu rennen. Ich rannte zu meiner Wohnung. Dort angekommen schloss ich die Tür zu. Ich hatte Angst. Ich traute mich nicht mal das Licht anzuschalten. Völlig ausser Atem saß ich vor der Tür, weinte und dachte über gerade eben nach. Mein Onkel war frei. Und er hatte mich verkauft. Was wäre passiert, wenn ich nicht hätte abhauen können? Wieso sind Menschen so schlecht? Die wichtigste Frage war: Was mach ich jetzt?
Und das war der Auslöser für meine Flucht nach Istanbul.
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Die Flucht Nefes & Cem
Dragoste"Einfach weg. Ich wollte einfach weg. In eine andere Stadt oder noch besser in ein anderes Kontinent. Ich wollte alles zurück lassen und einfach flüchten. Vor wem? Vor dem Alltag. Vor meinem Leben. Vor meinem Versagen, meinen Ängsten, meinen Sorgen...