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Während ich hier zwischen den unzähligen und namenlosen Kreuzen stehe, frage ich mich, wer du einst gewesen bist. Es gibt keinen Namen, nur irgendeine Nummer wurde unter das Todesjahr eingraviert:

1916

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Eine einsame Kerze beleuchtet dein graues Kreuz, das von Moos und Efeu bedeckt ist.

1916

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Kein Name, keine Herkunft, keine Identität. Wer warst du? Was warst du für ein Mensch? Was hat dich zum Krieg getrieben, was hat dich dazu bewegt? Vielleicht war es der Stolz und die Treue zum Vaterland. Doch um welchen Preis?

Ich frage mich, wie alt du damals wohl warst. 20, 30, 40 oder älter? Hattest du Familie? Warst du womöglich selbst schon Vater? Wurdest du von Jemandem vermisst oder warst du allein auf der Welt? Vielleicht war auch genau das dein Beweggrund. Niemanden in der Heimat, Nichts zu verlieren.

Aber vielleicht hattest du doch eine Familie, eine Frau, ein bis zwei Kinder, Eltern, Geschwister, Großmutter und Großvater. Was ist mit ihnen? Wie konntest du sie zurücklassen? Wurdest du dazu gezwungen? Oder bist du vielleicht sogar freiwillig gegangen?

Ob du oft an die Heimat gedacht hast, während du dich mit deinen Kameraden versteckt hast? Wem oder was galten wohl deine letzten Gedanken als du, in deinem eigenen Blut getränkt, auf dem kalten Boden lagst, der durch das Blut der unzähligen Leichen deiner Brüder und Kameraden bereits rot gefärbt war.

Die letzten Klänge, die du vermutlich vernommen hast, waren das Abfeuern von Waffen, das Kampfgeschrei deiner Brüder und Feinde gleichermaßen und das schmerzerfüllte Stöhnen derer, die dem Tode geweiht waren.

Das letzte, was deine müden Augen vermutlich sahen, waren die aufgewühlte und mit Kratern durchzogene Erde, die leeren und ausdruckslosen Gesichter deiner Kameraden, die deformierten und sich um dich stapelnden Leichen der Gefallenen und schließlich den Himmel, der durch das Licht der untergehenden Sonne in einen orangenen Schimmer getaucht wurde.

Das Letzte, was du vermutlich gefühlt hast, waren die kühle Brise die über das Schlachtfeld fegte und der Schmerz, der sich immer mehr zu einem Gefühl der Taubheit entwickelte, sowie die Kälte die sich langsam in jede Faser deines Körpers ausbreitete.

Sag mir Soldat, wie ging es zu Ende?

... Doch am Ende hat auch das keine Bedeutung mehr. Alles was bleibt sind deine Gebeine und die Gebeine deiner Kameraden. Denn dein Kreuz ist nur eines von vielen. Nur Eines, in einem endlos wirkenden Meer.

Man sollte meinen die Menschen hätten dazu gelernt. Doch Manches ändert sich wohl nie...

Sag mir Soldat, was du erlebt hast.

44972Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt