39

Kapitel 2

Die Sonne knallt warm gegen die Scheibe. Ich sitze im Auto von Herrn Braun, Herr Braun ist - wie erwartet - der Fahrer. "Wohin fahren wir?" frage ich. "Das hast du heut' schon öfters gefragt, weißt du." meint er nur. Daran konnte ich mich noch erinnern, aber er hat mir nie geantwortet. Als ich es ihm sage, lächelt er nur.

Ich starre wieder aus dem Fenster.

Schon seit zwei Tagen war ich auf der Klassenfahrt. Warum war Marilyn bloß nicht mitgekommen? Sie hatte mir nichts darüber gesagt. Er war ja auch nicht dabei. Warum hatten sie mich allein hier gelassen? Sie wissen doch ganz genau wie es mir ging!

"Hey, 39, aufwachen!" Ich öffne langsam die Augen. "Hm. Was ist?" frage ich verschlafen. "Wir sind da." Ich kann Herr Braun sehen der sich über mich hinüberbeugt und meinen Gurt abschnallt. Langsam steige ich aus dem Auto. Wir sind in einem Hof von einem Schloss oder einer Burg, das Gebäude sieht jedenfalls gigantisch aus.

"Dein neues Waisenhaus. Diesmal kein Kloster." meint Herr Braun und schließt sein Auto ab. "A-aber... meine Eltern..." stottere ich. "39, sie sind tot." Andi sieht mich mit ernsten Augen an. Sie sind tot...

Diese Worte hallen immer wieder in meinem Kopf. "Ich dachte, sie kennen meine Eltern nicht." gebe ich zu.

"39, die... dein Blut... die Leute aus dem Labor... sie haben es erkannt."

"Sie wissen, wie ich heiße?" Es klingt mehr als eine Frage, anstatt eine Feststellung. "Ja, aber, ich möchte, dass du alleine herausfindest, wie du heißt. Deshalb nenne ich dich immer noch 39... Jedenfalls, wir sind hier in den USA. Genauer gesagt in San Francisco, Kalifornien. Kannst du dich erinnern?"

Ich schüttle den Kopf. "USA. Die Vereinigten Staaten, liegt neben Kanada. In Nordamerika. Kalifornien ist der Staat, mit den meisten Einwohner. San Francisco ist eine Stadt in Kalifornien, eine Großstadt... und du kommst aus San Francisco."

"Ich komme aus San Francisco?" wiederhole ich. Andi nickt nur knapp. "Hier hab ich gewohnt?" frage ich nach. Er nickt wieder. "Bin ich hier zur Schule gegangen?"

"Jep. Das wirst du auch weiter tun. Die St. Florenz - High School. Sagt die dir was?"

Ich schüttle den Kopf.

"Naja, ich werde dich dort hinfahren. Immer. Ab Morgen."

"Ich gehe morgen schon wieder zur Schule?" frage ich fassungslos. Andi nickt. "Komm, lass uns reingehen. Du hast bestimmt ein tolles Zimmer." fordert Andi mich auf. "O-okay."

Das Waisenhaus ist wirklich gigantisch, genauso wie mein Zimmer. Ich habe ein Bett, eine Bettwäsche mit Delfinen drauf, eine Hängematte, ein Schreibtisch mit einem Ventilator drauf und einer kleiner Lampe. Die Decke ist schräg und zugekleistert mit Delfinen Poster.

Plötzlich sehe ich ein Bild vor mir: Ich streichle einen kleinen weißen Hund, im Hintergrund lacht jemand. Schneeball ist wirklich süß, oder Josie?, fragt eine weibliche Stimme.

"39, alles in Ordnung?" reißt mich eine Stimme wieder in die Wirklichkeit. Ich blinzle mehrmals, drehe den Kopf zu Herr Braun und sage: "Ich hasse Delfine. Ich will Schneeball haben!"

"Schneeball? Wer ist denn Schneeball?" fragt er. "Der Hund von unseren Nachbarn. Mama hat eine Hundeallergie, deshalb haben wir keinen eigenen Hund."

"Das ist ja interessant." Herr Braun sieht wirklich interessiert aus. "Woran kannst du dich noch erinnern?"

"Marilyn und ich gehen immer mit Schneeball spazieren." berichte ich.

"Wer ist denn Marilyn?" hackt Andi weiter nach.

"Keine Ahnung..." murmle ich. Dieser Name... den kenne ich doch... aber woher?

"Bist du dir sicher, dass du das nicht weiß?"

"Ich kann mich nicht erinnern, Herr Braun. Bitte setzen sie mich nicht so unter Druck!" flehe ich den Arzt an. "Ist gut, mach es dir in deinem Zimmer gemütlich... Wenn du keine Delfine haben willst... tut mir leid, aber du musst dich damit abfinden." sagt Andi. "Okay. Danke nochmal." bedanke ich mich. "Kein Problem, 39. Alles wird gut." Mit diesen Worten geht er.

Jetzt bin ich allein...

Ich lege mich in meine Hängematte und starre aus dem Dachfenster. Kleine Schäfchenwolken fliegen an mir vorbei.

"Wer ist bloß Marilyn?" flüstere ich zu mir selbst. Dann muss ich an die weibliche Stimme denken: Schneeball ist wirklich süß, oder Josie? WER IST JOSIE?!

Ich gebe einen Seufzer von mir.

"Ich freue mich für dich, wirklich, aber... bist du sicher, dass er der Richtige ist?"

"Ja, er ist es. Ich bin mir sicher. Wirklich Marilyn."

Ich schrecke hoch. Jetzt weiß ich, woher ich Marilyn kenne. Sie war schon einmal in meinen Erinnerungen gewesen. Jetzt schon zum dritten Mal. Dann muss sie doch jemand wichtiges sein, oder?

In dieser Erinnerung habe ich nur zwei Mädchenstimmen gehört. Ich habe nichts gesehen oder was gefühlt, einfach nur gehört...

Ich klettere aus der Hängematte. Jetzt ist es schon Abend... Ich gehe aus meinen Zimmer ins Esszimmer.

Zwei Kinder, vielleicht acht, neun Jahre alt spielen grade ein Spiel.

"Wann gibt's Essen?" frage ich die beiden. Die starren mich nur komisch an. Hab ich was Falsches gesagt?

"Wir haben doch grade gegessen." meint das Mädchen mit piepsiger Stimme. Der Junge nickt nur hastig.

Na toll, ich habe das Essen wieder verschlafen, wenn es so weiter geht verhungere ich noch!

Ich laufe hinaus in den kleinen Garten des Waisenhauses. Hier wächst Gemüse und Obst, Blumen und auch Kräuter. Ich setzte mich auf die Bank, die mitten im Garten steht.

Es ist schon dunkel und garantiert muss ich bald wieder schlafen gehen. Andi ist wohl auch schon wieder zu Hause.

Wie wohl meine Klassenkameraden sind? Ich kann mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Außerdem, wer sind Josie und Marilyn? Etwa meine besten Freundinnen? Und, was hat es mit 'er' auf sich? Ich träume immer wieder von ihm. Von 'er'...

Ich starre hoch in den sternenklaren Himmel. Hoffentlich werde ich morgen Antworten auf meine Fragen bekommen.