12 - Als wir in Silber schwammen

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Knapp über einem Monat. Fünf Wochen. Fünfunddreißig Tage. Achthundertundvierzig Stunden.

Das war die Zeit, die uns noch gemeinsam blieb. Und davon musste man ja davon musste man ja die Zeit abziehen, die wir schliefen, und die, in der wir in der Schule saßen.

Letztere, beschloss Flo, musste minimiert werden, schließlich blieb ihm sogar noch viel weniger Zeit mit dir, wo er doch gleich zu Ferienbeginn nach Amerika flog.

Wir schwänzten viel, eigentlich viel zu viel, aber es war kurz vor den Ferien. Also wen sollte es schon groß interessieren? Und wir fehlten ja auch nie den ganzen Tag, immer nur einzelne Stunden.

Manchmal nur wir beide, du und ich, und wir verbrachten die Zeit in unserem Garten, redend, kichernd, schweigend. Einfach gemeinsam.

Wenn Flo dabei war, saßen wir bei Giovanni an einem der Tische mit diesen fürchterlich hässlichen roten Plastiktischdecken, kannst du dich an die noch erinnern? Damals zogst du jedes Mal über sie her, wenn wir in der Eisdiele waren, und Giovanni drohte dir dann lachend mit dem Eiskugelkratzer. Oder wie auch immer man das Teil nennt.

Oder wir gingen zum See. Wirklich als See kann man diesen Tümpel im Wald ja eigentlich nicht bezeichnen, ich war neulich dort, aber schön ist er trotzdem.

Nachmittags waren wir nie dort, dann war es zu voll, aber morgens war er wundervoll mit seinem klaren Wasser und den Schatten der umstehenden Bäume darin. Am schönsten aber war der See in der Nacht vor deinem achtzehnten Geburtstag.

Flo hatte es vorgeschlagen. Am Morgen hielt er mich am Arm fest, bevor ich in meinem Klassenraum verschwinden konnte und grinste mich an. „Was hältst du davon, wenn wir Juli überraschen?"

Ich zog nur fragend die Augenbrauen hoch.

„Na, ich meine, lass uns was cooles machen."

„Zum Beispiel?", entgegnete ich wenig überzeugt.

„Zum Beispiel... ach, keine Ahnung. Wir könnten uns rausschleichen, in den Wald. Zum See." Seine Augen leuchteten.

Ich sah ihn zweifelnd an, doch irgendwie schaffte Flo es während unseres Spanischunterrichts, mich zu überzeugen.

Und so schlich ich mich um elf Uhr an diesem Abend aus dem Haus. Flo wartete bereits auf mich und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu dir.

Zum Glück lag dein Zimmer im Erdgeschoss, sodass wir uns nicht mit Steinchen oder dergleichen aufhalten mussten, sondern direkt an dein Fenster klopften. Als dein Gesicht mit überrascht geweiteten Augen darin erschien, trugst du schon dein altes Schlafshirt.

„Was macht ihr denn hier?", zischtest du durch den Fensterspalt.

„Dich überraschen. Wir wollen zum See", wisperte Flo zurück.

„Jetzt?"

„Ja. Jetzt."

Du grinstest und verschwandst für einige Minuten, um vollständig angezogen und mit einem deiner tausenden selbst bemalten Leinenbeutel wieder aufzutauchen.

Das Fenster wurde aufgezogen und du schwangst dich zu uns heraus. Geschickt zogst du das Fenster so weit zu, dass du es immer noch bequem von außen aufdrücken konntest, und stießt mir in die Seite. „Auf geht's!"

Wir liefen zu dritt leise redend und lachend durch die nächtlichen Straßen, dann den Wald, bis wir den See erreichten. Im stillen, glatten Wasser spiegelten sich die schwarzen Bäume und die von den Lichtern der Stadt leicht orange gefärbten Wolken.

Wir warfen unsere Sachen nahe der tagsüber als Kiosk dienenden Bretterbude ins Gras und rannten laut lachend über den Steg in den See.

Das Wasser verschluckte mich mit seiner Schwärze. Wäre es nicht so warm gewesen, hätte man meinen können, sich in der Tiefsee zu befinden. Für einen kurzen Augenblick genoss ich dieses seltsame Gefühl, dann tauchte ich wieder auf, nur um sofort wieder unter Wasser gedrückt zu werden. Ich verschluckte gefühlt den halben See und spuckte ihn in Flos grinsendes Gesicht, als ich wieder an die Oberfläche kam.

„Du Schuft!", prustete ich und half dir mit Begeisterung dabei, ihn wiederholt unterzuducken.

Ich weiß nicht, wie lange wir so herum alberten, doch irgendwann lagen wir erschöpft nebeneinander auf dem maroden Steg und lauschten dem Atem der anderen und der Nacht um uns herum. Es war warm und ich konnte spüren, wie ich von den Mücken zerstochen wurde, doch trotzdem genoss ich es.

Als ich die Augen öffnete, waren die Wolken aufgerissen. Man konnte einige Sterne erkennen und der halb volle Mond ergoss sein Licht über uns. Ich wandte den Kopf, um euch anzusehen. Durch das helle Mondlicht wirkte das noch nicht getrocknete Wasser wie wie Spuren flüssigen Silbers und es passte.

Das hier war ein silberner Moment, ein Moment für die Ewigkeit.

 

Ich träume von SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt