Töne aus alten Zeiten

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"Was für ein Schwachsinn" dachte sich Hanna. Sie hielt das zerknitterte Stück Papier in der Hand, starrte ablehnend auf die mit Tinte geschrieben Zeilen und war kurz davor es zusammenzuknüllen und es in eine der verstaubten Ecken des Raumes zu werfen. Als ob etwas wie Musik Probleme lösen konnte. Wo war sie, wenn Hanna Nachts zitternd versuchte auf den kalten Steinen der Straße einzuschlafen? Wo war sie gewesen, als Hanna alles verloren hatte? Nervig fand sie die schrägen Töne, die aus manchen Häusern zu vernehmen waren, erzeugt von den Kindern reicher Leute, die versuchten auf den teuren Geschenken ihrer Eltern zu spielen und sie dann wahrscheinlich doch nach drei Tagen wieder uninteressant fanden. Oder die Musik eines Straßenmusikanten, der mehr Geld von den Leuten bekam als sie, obwohl dieser meist genug davon hatte, hatte er doch die Mittel ein Instrument zu kaufen.

Früher hatte sie Musik geliebt. Hatte es genossen, wenn ihre Mutter sie in den Schlaf sang, oder gelacht, wenn sie mit ihren Freunden wilde Kinderlieder schmetterte und belebt herumtanzte. Heute waren dies nur noch schmerzhafte Erinnerung. Das Lied ihrer Mutter sang sie schon lange nicht mehr, einschlafen tat sie schließlich trotzdem nie und außerdem hatte sie einige Zeilen über die Jahre bereits vergessen. Manchmal summte sie immer noch die Melodie, die ihr jedoch immer wieder Tränen in die Augen trieb.

Neben der kleinen Schatulle, in der sie den verbleichten Brief gefunden hatte stand ein verstaubter Plattenspieler. Er war alt und verrostet, doch man erkannte, dass er früher gut gepflegt worden war. Es waren keine Kratzspuren zu erkennen und an der Seite des Gerätes war das Wort Schmuckstück eingraviert worden. Hanna sah sich um. Das Haus auf dessen Dachboden sie sich befand stand schon mehrere Jahrzenhte leer, so vieles wusste sie. Sie hatte jedoch keine Ahnung, warum es unbewohnt blieb und weshalb nie jemand kam, um die hier zurückgebliebenen Sachen abzuholen. Sie war jedoch froh darüber. Die antiken Möbel - mit Blümchen bestickte Betten und Sofas- boten einen bequemen Schlafplatz und die Wände des Raumes schützten sie vor dem kalten Wind der Nacht, auch wenn sie etwas undurchlässig waren und manche der Dielen bedrohlich knartschten.

Hanna war gerade dabei den Zettel zurück in die Schachtel zu Stecken, mit dem Vorsatz ihn nie wieder durchzulesen, als sie irgendwo aus der Ferne leise, seichte Töne vernahm. Es war der Klang eines Klaviers, der durch die Luke an einer der Dachschrägen zu ihr Drang. Sie hatte sich schon mehrere Male gefragt, was sich hinter dieser Tür verbarg, hatte jedoch nie den Mut aufgebracht, ihrer Neugier nach zu gehen. Doch es war etwas am Klang dieser Melodie, dass ihr nur all zu bekannt vorkam und sie die Leiter zur Luke hinauf lockte. Diese ließ sich mit einem langen, schrägen Knarren öffnen und führte auf das flache Dach des Anbaus, in den Hanna noch keinen Fuß gesetzt hatte. Sie bestaunte einen Augenblick einfach nur die unglaubliche Aussicht auf die Stadt, die sich ihr von hier oben bot.

Die wunderschönen Altbauten, waren feinsäuberlich aneinandergerreiht, vor ihnen gut gepflegte Gärten und angebaute Terrassen, die Dächer glänzend in der Nachmittagssonne und aus manch einem ihrer Schornsteine leise Rauch aufsteigend. Wie gerne hätte auch sie nun vor einem Kaminfeuer gesessen und sich die Hände daran gewärmt, während sie dem leisen knistern der Flammen lauschte. Hier oben hingegen blies ein kalter Windzug, der sie immer wieder zittern lies. Doch dies störte sie nicht. Im Gegenteil, sie begrüßte die frische, klare Luft, welche so unberührt von Autoabgase und anderer Verschmutzung der Stadt schien und atmete sie wie einen Hauch von Freiheit ein. Freiheit von den Mauern der Stadt auf dessen Straßen sie so lange geschlafen, gewohnt hatte. Wie miekrig sie ihr in diesem Moment vorkamen. Die Hauptstraßen, Alleen, die Hanna eingeengt, eingeschüchtert hatten, wirkten von hier aus nur noch wie kleine unbedeutende Pfade. Selbst das prunkvolle Rathaus, welches alle anderen Gebäude der Stadt überragte, verlor seine bedrohliche Wirkung. Es konnte fast ein Puppenhaus sein, welches einem kleinen Mädchen zum Zeitvertreib diente. Hanna atmete tief ein und aus. Es war, als würde ihr auf diesem Dach eine große Last genommen werden. Fast fühlte sie sich, als könnten ihr jeden Moment Flügel wachsen und sie könnte mit den Vögeln über ihr am Himmel hinfort fliegen.

Erst spät bemerkte sie, dass das Lied, welches sie eben noch hierher gelockt hatte, nicht mehr zu hören war. Sie suchte nach der Ursache und erblickte nun zum ersten Mal das Klavier in der Mitte des Daches, auf dem eben noch gespielte worden war. Davor auf einem alten ledernen Stuhl saß ein Mädchen in etwa ihrem Alter, welches sie anstarrte. "Wer bist du?" fragte sie verwundert. Hanna blieb wie angewurzelt stehen. "Ich beiß nicht hab keine Angst" sie kicherte leise "komm hierüber!". Wie betäubt setzte Hanna einen Fuß vor den anderen, woher kam dieses Mädchen und wieso spielte sie hier oben Klavier?

Als Hanna den Flügel erreichte klopfte das Mädchen auf den Platz neben sich, "komm ich will dir was vorspielen". Zögernd nahm Hanna platz und ohne ein weiteres Kommentar begann die Fremde zu spielen. Ihre Finger flogen über die Tasten, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Seicht und unbeschwert flogen die Töne des Instrumentes durch die Luft und mischten sich mit dem Pfeifen des Windes. Es war eine wunderschöne Melodie. Ein Lied, das Hanna mit einer warmen Umarmung empfing und ganz langsam anfing ihr Herz aufzutauen. Ohne es zunächst zu bemerken, begann Hanna leise mitzusummen. Wie schon vorhin, merkte sie, das ihr das Lied seltsam vertraut war. Sie kannte jeden Ton, jede Wendung, jede Wiederholung und jede Pause. Es war wie eine Melodie, die schon immer in ihr drin gespielt hatte. Und nach und nach fielen ihr die Zeilen wieder ein, die Wörter ihrer Mutter, welche sie über die Jahre vergessen hatte. Zum ersten Mal gingen sie ihr über die Lippen, zum ersten Mal kullerten Tränen über ihre Wange, die nicht aus Trauer sondern voller Freude, vergossen worden, etwas längst vergessenes wiedergefunden zu haben. Als der Schlussakkord erklang, lächelte das Mädchen neben ihr sie an. "Lass dir von niemand sagen, nicht einmal von dir selbst, Musik sei Schwachsinn. Sie ist das einzige was zählt".

Seitdem hängt der Brief, der sie anfangs so verärgert hatte neben ihr, an ihrem mit Blumen bestickten Bett, um sie immer an den Glauben in die Musik zu erinnern. Mittlerweile kam es ihr vor, als hätte sie in selbst geschrieben.

Liebe Musik,

du bist ein Teil meines Lebens, so wie ich ein Teil von dir. Auch wenn du nicht sichtbar bist, bist du immer da, spielst in meinem Kopf, oder bist leise aus einer kleinen Gasse zu vernehmen. Ich höre dich in den gesprochenen Wörtern meiner Mitmenschen, in ihren ruhigen oder schnellen Schritten, ihren tickenden Uhren, in dem Pfeifen des Windes und in meinem eigenen Herzschlag.

Denn auch in mir spielen deine Melodien. Diese Melodien, die mich immer wieder ermuntern weiter zu machen, alles zu versuchen. Diese Melodien, die mir als Sprachrohr dienen, das aussprechen, was ich mit Worten nicht zu sagen vermag und möglicherweise die Menschen erreichen, die ich ohne dich nicht einmal erkennen würde.

Deine Sprache ist universell, jeder kann sie sprechen. Vor dir sind wir alle gleich. Mit dir schaffen wir Momente voller Gemeinschaftsgefühl und Zugehörigkeit. Denn man fühlt sich nicht mehr so allein, wenn man während eines Liedes in jemandes Augen schaut und sieht, dass dieser ebenfalls berührt ist. Es mag aus einem anderen Grund sein, aber doch fühlt man sich verstanden, schließlich bleibt die Grundaussage des Stückes für jeden gleich.

Musik, du bist stark! Hast die Macht Leute zusammenzuführen, Herzen zu heilen und gibst jedem die Chance er selbst zu sein und seinen Gefühlen freien lauf zu lassen. Und auch wenn wir uns immer wieder beklagen, bist du für uns da, bist für jede Situation gewappnet, um uns beizustehen.

Du schaffst es manchmal sogar die Welt anzuhalten und einen kleinen, kurzweiligen Moment, zu einer ewigen Erinnerung zu machen. Und es sind diese kleinen Augenblicke, die unser Leben noch ein Stück besser machen, uns zum Lächeln bringen, uns befreien.

Du schaffst uns ein zeitweiliges Paradies, ganz egal wo du erklingst.

Danke!



GeschichtenerzählerWhere stories live. Discover now