Der Aufkleber

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Man begegnet ihnen überall. Sie kleben an Hauswänden, an Straßenlaternen oder an Ampeln und wollen uns ihre kleinen Botschaften mitteilen. Doch auch wenn wir ihnen täglich begegnen, täglich an ihnen vorbeilaufen, beachten wir sie nicht. Und selbst wenn dann haben wir ihren Inhalt nach zwei überquerten Straßen wieder vergessen. Dafür gibt es einfach zu viele. Zu viel Überfluss an überflüssigen, das der näheren Betrachtung gar nicht wert erscheint. Und doch können manche Botschaften am Straßenrand unseren Tag verschönern.

Wutentbrannt stampfte sie aus dem Café hinaus. Keine Sekunde länger würde sie es in dieser stickigen Luft aushalten, zusammengefercht mit den unfreundlichsten Menschen, die nichts anderes zu tun hatten, als sich zu beklagen. Als Bedienung musste sie sich so einiges anhören.  Man beschwerte sich über alles was im eigenen Leben gerade schief lief -Das Wetter immoment sei nicht zu ertragen, die Freundin habe sich getrennt, die Nachbarn von nebenan seien der reinste Horror und nicht mehr erträglich, oder man sei schlicht und einfach unzufrieden mit sich selbst. An allem war etwas zu bemängeln. Zusätzlich nahm manch einer all seine Altlasten zum Anlass den innerlichen Zorn an ihr auszulassen, an ihr, die sie immer fröhlich lächelte, den Kunden versuchte schnellst möglich all ihre Wünsche zu erfüllen und es wirklich jedem recht zu machen. Doch das reichte meistens nicht, denn irgendwas fehlt schließlich immer: Der Kaffee ist entweder zu heiß, zu kalt, oder eben zu stark; der Kuchen schmeckt, als würde er schon drei Tage in der Vitrine stehen, die Mutter mit zwei Kindern sei zu laut und deshalb sollte nun sie die Erzieherin spielen, oder der zu zahlende Geldbetrag sei zu hoch und demnach falsch berechnet. Alles sei ihre Schuld und auf ihrem Mangel an Kompetenz  zurückzuführen. Doch nie wagt es jemand sich selber hinter den Tresen zu stellen und den Laden zu schmeißen.

Und heute wurde es ihr zu viel. Nicht mehr ertragen konnte sie das ständige Gequängel und Gequake. Sie hatte doch schon genung mit sich selbst zu tun, selber genug Probleme, die in ihrem Kopf herumschwirrten. Diese ganzen zusätzlichen Klagen, welcher sie sich annehmen musste engten sie nur noch weiter ein. Ja ihr selbst war nur noch zum Jammern zumute. Sie brauchte unbedingt frische Luft. Luft zum Atmen, die ihr den Kopf frei machen konnte.

So ging sie also weiter die Straße entlang ohne ein wirkliches Ziel, fluchte hier und da über den ein oder anderen Verkehrsteilnehmer, der sie als Fußgängerin mal wieder nicht beachtet und deshalb beinahe umgefahren hatte und schimpfte über die ganze Welt. Warum musste sie auch so eine blöde Arbeitsstelle haben? Warum musste alles in ihrem Leben immer so schwer sein, jeder eingeschlagenen Weg in einer Sackgasse enden? Hatte das Leben nichts anderes für sie bereit als Probleme über Probleme? Sie stolperte über den Bordstein des nächsten Gehweges und konnte sich gerade noch halten, um nicht komplett in eine Pfütze am Straßenrand zu fallen. Na toll, nur Pech hatte man in seinem Leben. Kurz hielt sie inne und setzte sich auf eine Bank direkt gegenüber von ihr. Ihr Knöchel schmerzte, doch sie war den Schmerz gewohnt. Es würde nur ein weiterer blauer Fleck werden, der zeigte was für ein Tollpatsch sie war. Kurz massierte sie sich die Stelle, mit den von der Abendluft kalten Händen. Dann lehnte sie sich zurück und starrte gen Himmel empor, der sich durch den Untergang der Sonne in rosafarbendes und orangenes Licht hüllte. Sie verweilte einen Moment so und beobachtete bloß das Schauspiel, das sich ihr bot, welches bloß gelegentlich durch ihren sichtbar gewordenen Atem unterbrochen wurde.

Irgendwann setzte sich jemand neben sie, was sie jedoch kaum bemerkte, da sie weiter wie in Trance nach oben starrte. "Sie sitzen nun schon eine ganze Weile hier" sprach eine freundliche Männerstimme. "Ihnen muss doch kalt sein". Erst jetzt hatte sie die Person neben sich bemerkt und wendete den Blick vom Himmelszelt ab. Der Mann zu ihrer rechten hatte ein ehrliches Lächeln auf dem Gesicht und hielt zwei Tassen Kaffee in der Hand, wovon er ihr eine entgegen streckte. "Möchten Sie?". Zögernd griff sie nach dem Becher. Solch eine einfache und nette Geste,  hatte sie nicht erwartet. Ja sie war es gar nicht mehr gewohnt, dass man einer unbekannten Person einfach so etwas gutes tun konnte. "J-Ja sehr gerne" sagte sie und nahm das warme Getränk an sich, das ihre erfrohrenen Hände freudig empfingen. Der erste Schluck war wie eine Welle positiver Energie, die durch sie hindurch floss und gleichzeitig ihren gesamten Körper erwärmte. Es war nun nicht so als hätte sie noch nie einen Kaffee getrunken und doch war es ein völlig neues Geschmackserlebnis. Denn nie zuvor ging solch eine selbstlose und herzliche Geste diesem voraus.

Es war in diesem kleinen, aber schönen Moment, als sie erkannte, dass sie selbst zu denen gehörte die ihren Problemen Raum gaben sich zu entfalten. Es war in diesem Moment, als sie diesen kleinen Aufkleber erblickte, der an dem Laternenpfahl neben der Bank klebte. Nie hätte sie ihn in ihrem stressigen, schnellen Leben je gesehen. Immer wäre sie an ihm vorbei gelaufen in Eile oder mit den Gedanken bei den Problemen, die sich in ihrem Kopf anhäuften. Doch heute laß sie ganz bewusst diese fünf kleinen Worte, welche dort geschrieben standen. Ein Spruch, den sie nun für immer verinnerlichen wollte und der eben nicht nur ein weiterer unbeachteter Klebestreifen von vielen blieb.

"Das gute liegt so nah"

So nah, dass man es manchmal übersieht.

GeschichtenerzählerWhere stories live. Discover now