Bevor ich gehe...

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Ziellos lief ich durch die nächtlichen Straßen. Flackernde Straßenlaternen durchbrachen alle zehn Meter die Dunkelheit.

Autos fuhren vorbei. In weiter Ferne bellte ein Hund.

Doch ich bemerkte nichts von alldem.

Ich vergrub die Hände in den Jackentaschen und ging mit gesenktem Kopf weiter, während meine Gedanken nur um eine Person kreisten.

War es falsch, was ich nun vorhatte? War es falsch, nach all den Jahren des Schweigens zu reden?

War es falsch?

Ich wusste es nicht, niemand konnte mir eine Antwort auf diese Frage geben. Falsch oder richtig...

Was spielte das schon für eine Rolle? Das Ergebnis würde das gleiche bleiben.

Ich sah ihn schon vor mir, vor meinem inneren Auge, wie er mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht den Kopf schüttelte. Mich zurückwies.

Ich atmete tief durch und wappnete mich gegen den Schmerz. Kurz blitzte ein Gedanke in meinem Kopf auf. Vielleicht...

Vielleicht käme es ja ganz anders? Vielleicht... Vielleicht... mochte er mich doch...?

Ein leises Schnauben entfuhr mir, als ich mich bei diesen Gedanken ertappte. Wer war ich denn, dass ich mir solche Hoffnungen machte?

Ich kannte ihn schließlich schon jahrelang. Er würde nichts dergleichen sagen. Er würde mich mit einer genervten Handbewegung fort scheuchen, meine Worte mit einem gleichgültigen Schulterzucken abtun.

Doch ich wollte es ihm sagen. Wollte ihm sagen, was ich fühlte. Wollte es ihm sagen, bevor ich ging. Ich war so dumm.

So unglaublich dumm...

Sorgfältig machte ich mich daran, das kleine Pflänzchen der Hoffnung, das sich in meinem Herzen eingenistet hatte, heraus zu reißen. Mit Stumpf und Stiel.

Mit ruhigen Fingern tastete ich in die Tasche meiner schwarzen Röhrenjeans. Ja.

Sie war noch da.

Meine Schritte hallten auf dem rissigen Asphalt wieder, während ich langsam auf ihn zuschritt. Lässig und cool wie immer lehnte er mit emotionslosem Gesicht an einem hohen Zaun und wartete.

Wartete auf mich.

Angst machte sich in mir breit, als ich seine scharf umrissene Gestalt wahrnahm. Die ganze Zeit über war sie da gewesen, hatte sich in einem kleinen Winkel meines Herzens versteckt gehalten. Wie ein verängstigtes Kaninchen hatte sie sich eingenistet und ich hatte sie einfach nicht zu packen bekommen. Jedes Mal entwischte sie mir aufs Neue.

Und jetzt stand ich hier. So dumm... Was wollte ich hier eigentlich?

Ich blinzelte unsicher zu ihm hoch. Er sah mich ausdruckslos an.

So dumm...

Ich versank in seinen schwarzen Augen. So tief, sie waren so unendlich tief... Ich könnte sie ewig betrachten. Diese wunderschönen Iriden, die die Farbe von flüssigem Onyx hatten.

So wunderschön...

So dumm...

„Sakura..." Seine kalte Stimme hallte durch die Stille der Nacht.

So dumm...

„Was willst du von mir?" Ich schloss kurz die Lider. Noch könnte ich zurück...

So dumm...

Seine Augen nahmen mich gefangen, lähmten all mein Denken. Wie konnte man sich von einer Person nur so beeinflussen lassen?

So dumm...

Bevor ich gehe...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt