„Ich vermisse Dich"

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„Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."
‭‭Offenbarung‬ ‭21:4‬ ‭

Juli 1944, Frankreich, Schützengraben

Vorsichtig zog Gordon das zerschlissene Blatt Papier aus seiner Brusttasche und faltete den Brief mit der verblichenen, aber feinen Handschrift auseinander. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er diesen Brief in den letzten zwei Wochen mit Tränen erfüllten Augen gelesen hatte.
Sie hatte gewusst, dass sie kommen würden, wie auch bei so vielen anderen jüdischen Familien. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Nazis auch bei Hannah's Familie eingedrungen waren und sie in die Viehwaggons getrieben hatten.
   Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, doch schmerzlich gut konnte Gordon sich ausmalen, wie Hannah ihre unheilverkündenden Rufe schon einige Straßen vor ihrem Haus gehört haben musste und ihm in den letzten Sekunden, bevor sie verschleppt worden waren, einige Zeilen geschrieben hatte.
   Gordons Blick füllte sich mit unbeschreiblichem Schmerz, als er die zittrigen Schriftzüge betrachtete und er musste sich zusammenreißen, um nicht schluchzend zusammenzubrechen. Teilweise hatte er sogar Schwierigkeiten ihre Worte zu entziffern, da ihre Hand vor Angst so sehr gezittert hatte. Es war ein furchtbares Gefühl und Gordon machte sich unsagbare Vorwürfe, dass er in diesem Moment nicht bei ihr gewesen war.
   Er hatte ihr versprochen, sie zu einem gemeinsamen, romantischen Abendessen an einem sicheren Ort abzuholen, doch er war noch aufgehalten worden und als er gekommen war, hatte ihn nur noch ein knittriger Brief empfangen, der er auf den Bodendielen gefunden hatte:

Liebster Gordon,
Die Deutschen kommen und ich spüre, dass wir uns nie mehr wieder sehen werden. Ich glaube, mein Herz war noch nie so schwer wie jetzt...ich vermisse dich schrecklich...
Meine Stunden sind gezählt, aber du sollst wissen, dass ich dich bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde. In meinen Gedanken umarme ich dich und lasse dich nie mehr los...
Ich freue mich auf den Himmel, Gordon...dort gibt es keine Tränen mehr...
In tiefster Liebe, Hannah

Gordon ballte seine Hände zu Fäusten und starrte auf das Blatt Papier, welches sich von Hannah's Tränen gewellt hatte. Sie hatte nicht geschrieben, dass sie ängstlich war, doch kannte Gordon sie gut genug, um zu wissen, dass ihr Herz vor unbeschreiblicher Angst wie wild geklopft haben musste.
   Mehr als alles andere auf der Welt wünschte er sich, er wäre in dem Moment bei ihr gewesen und hätte sie noch ein letztes Mal in seine Arme schließen und halten können, sie trösten...sein Gesicht in ihren wunderschönen, dunklen Locken vergraben...
   Sie hatten ihm seine kleine Hannah weggenommen...
   Über den Köpfen der Soldaten tobten die Gewehr - und Kanonenschüsse, doch auch sie konnten den Sturm in Gordons Herzen nicht übertönen.
   Schweren Herzens faltete Gordon den Brief wieder zusammen und schob ihn in die Tasche seiner Uniform, die über seinem Herzen lag. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Schützengraben, in dem er sich mit seinem amerikanischen Kameraden befand.
   Seine geliebte Hannah könnte er nicht mehr zurückholen, doch sie konnten vielleicht verhindern, dass noch tausende weitere Menschen durch Hitlers Hand den Tod fanden. Gordon versuchte nicht an den Schmerz zu denken, der sich mit jeder weiteren Sekunde ohne Hannah in seiner Brust ausweitete und atmete tief durch.
   Der Schmerz zerriss ihn fast, doch bald würde er Hannah im neuen Jerusalem wiedersehen.
   Nicht in dem Jerusalem, in dem die Menschen sich bekämpften und um das Recht der Juden gekämpft wurde. Sondern in dem Jerusalem, in dem Jesus der Mittelpunkt war, wo es kein Leid und keine Schmerzen mehr geben würde.
   Doch noch nicht jetzt...erst würde er diesen Krieg für seine Hannah gewinnen.

Ein bisschen Schokolade für's HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt