Der erste Tag

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Es war noch viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. 
Einschüchternder. Bedrückender.
Annika wusste nicht wirklich, was sie stattdessen erwartet hatte, aber es war kein schönes Gefühl, von mehr als zwei Dutzend Augenpaaren neugierig gemustert zu werden. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre gegangen. Sie fühlte sich schrecklich unwohl. 
Aber sie konnte dieser Situation nicht entkommen, das war ihr bewusst. Es war kindisch, jetzt noch über das Davonlaufen nachzudenken. Um sich zu wehren, war es zu spät. 
Das Mädchen bekam kaum mit, wie ihre neue Lehrerin, eine recht kleine Frau mittleren Alters mit freundlichen, weichen Gesichtszügen, sie ihren neuen Klassenkameraden vorstellte. Sie hörte nur einmal ihren Namen fallen, es war wie durch Watte, und er klang fremd, wie Okabe-sensei ihn aussprach, mit einem zu langen A vorne und einem zu kurzen I in der Mitte. Aber noch mehr Probleme bereitete ihr Annikas Nachname. 
Aber das war nicht das Problem. 
Mein Japanisch ist ja auch nicht perfekt, dachte Annika, während sie zu Boden starrte. Nein, ganz bestimmt klingt es furchtbar albern … oder es ist nicht einmal verständlich. Annika fürchtete sich davor, wie ihre Klassenkameraden ihre Andersartigkeit aufnehmen würden …
Genug gejammert, schalt sie sich schließlich ärgerlich und presste die Kiefer aufeinander. Doch so sehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen und an dieser Situation irgendetwas Erfreuliches zu finden, es gelang ihr nicht. 
Schließlich sah sie auf, als ihre Klassenlehrerin das Wort wieder an sie richtete. Und obwohl Annika jedes Wort verstand, konnte sie nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, so sehr hatte sie sich verkrampft, um auf gar keinen Fall ihre Deckung fallenzulassen. 
Okabe-sensei lächelte gutmütig und wiederholte die Aufforderung, sich auf einen freien Platz in der zweiten Reihe zu setzen, noch einmal auf Englisch. Es war ein gebrochenes, schwer verständliches Englisch, hätte Annika nicht zuvor denselben Satz auf Japanisch gehört, hätte sie vermutlich beim besten Willen nicht gewusst, was die gute Frau von ihr wollte. 
Nun nickte sie knapp und ging zu dem Platz, den ihre Lehrerin ihr zugewiesen hatte. Sie wagte nur einen kurzen, scheuen Blick nach links und rechts und stellte fest, dass sie von nun an zwischen zwei stereotypischen japanischen Schulmädchen sitzen würde. Langes, glattes und dunkles Haar, Ponyfrisur, dunkle Augen und natürlich eine Schuluniform. 
Gott, nie und nimmer werde ich die auseinanderhalten können, dachte Annika richtiggehend verzweifelt und blickte vor sich auf den Tisch, faltete die Hände ineinander, weil sie nicht wusste, was sie sonst damit hätte tun sollen. 
Als sie noch einmal kurz nach links schielte, schenkte das Mädchen ihr ein freundliches Lächeln, dann holte sie ein Heft aus ihrer Schultasche, ehe sie sich kurz zu Annika lehnte. „Hey, verstehst du, was ich sage?“, wollte sie dann neugierig wissen. 
Annika zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen, dann nickte sie schnell. „Ja, ich denke schon“, erwiderte sie und biss sich dann auf die Unterlippe. Ich wollte doch mit niemandem reden, schärfte sie sich verärgert ein. Die Rolle des unwissenden europäischen Mädchens sollte ihr eigentlich unnötige Peinlichkeiten ersparen. 
„Wir haben jetzt Englisch“, erklärte das Mädchen ihr. 
„Ah“, machte Annika nur verstehend und nahm nun ebenfalls ihr Heft hervor, sie zitterte dabei vor Nervosität. Diese Frau unterrichtet hier Englisch?, dachte sie, um sich davon abzulenken. Grundgütiger …
„Wie heißt du nochmal? Anka?“, fragte das Mädchen nun noch einmal nach. 
„Annika“, korrigierte Annika ohne aufzusehen, während sie unnötigerweise mitschrieb, was die Lehrerin ihren Schülern erzählte. Aber sie musste irgendetwas tun, ganz gleich, wie sehr ihre Hände vor Nervosität zitterten, es half ihr irgendwie. „Ann-i-ka“, betonte Annika ihren Namen noch einmal besonders deutlich und fragte sich sogleich, warum sie nicht einfach still sein konnte. Sie wollte nicht reden oder am Ende gar von neugierigen Mitschülerinnen ausgefragt werden. Danach stand ihr nun wirklich nicht der Sinn. 
„Ich heiße Yuki. Freut mich, dich kennenzulernen“, meinte das Mädchen. 
„Mich auch“, gab Annika einsilbig zurück. Sie atmete tief ein und stützte dann den Kopf auf ihrer Hand auf, und zwar so, dass zu ihrer linken Seite ein Schleier aus goldblonden Haaren ihr Gesicht verdeckte, während sie schrieb. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. 
Annika ahnte, dass Yuki sie noch eine Weile lang fragend und vielleicht auch ein wenig irritiert musterte, doch sie versuchte, dieses Gefühl zu ignorieren. Irgendwann hatte sie dann den Eindruck, dass ihre Klassenkameradin das Interesse verloren hatte. 
Gott sei Dank.
Der Unterricht zog sich unendlich lang hin. Dabei wollte Annika nichts sehnlicher, als endlich das Läuten der Schulglocke vernehmen, ihre Sachen schnappen und nach Hause gehen. Nach Hause, dachte sie unglücklich, während die Feder ihres Füllers unaufhörlich über das Papier glitt und eine Spur aus tiefblauer Tinte hinter sich herzog. Schön wär’s. Annika schluckte und biss sich auf die Unterlippe. 
In der ersten Pause versuchte sie, möglichst unauffällig zu studieren, was für Menschen von nun an ihr soziales Umfeld prägen sollten. Sie erkannte die klassischen Stereotypen wieder, den Klassenclown und den Streber, den Träumer und die Diva. Also ist ja quasi alles beim Alten, dachte Annika abfällig und schnaubte stumm. 
Das Unwohlsein war nicht von ihr abgefallen. Nicht ein einziges Mal in den mittlerweile vergangenen zwei Stunden. Sie fühlte sich beobachtet, es war, als könnte sie die Blicke ihrer Klassenkameraden spüren. Ich bilde mir das ein, sagte Annika sich irgendwann stoisch. Doch zugleich wusste sie auch, dass es nicht so war. 
Sie fiel auf wie ein bunter Hund. Hier in Japan gab es für gewöhnlich niemanden, dessen Haarfarbe ohne chemische Behandlung der von Gold glich und niemand hatte zugleich so helle Augen, von Annikas westlichen Gesichtszügen ganz zu schweigen. 
Und nun wünschte sie sich, wirklich kein Japanisch zu verstehen. Sie konnte deutlich hören, wie die Mädchen und auch die Jungen über sie tuschelten. Oder ich bilde mir auch das nur ein, dachte Annika und zeichnete mit einer beinahe krampfhaften Entschlossenheit einfach weiter kleine Bildergeschichten in ihr Skizzenbuch. 
Doch irgendwann hatte sie das Gefühl, dass ihr Nacken bald in Flammen aufgehen würde. Das ist doch nicht normal!, dachte sie schließlich gereizt und drehte sich nun endlich um, entschlossen, diesem intensiven Blick, den sie schon die ganze Zeit über deutlich auf sich ruhen spürte, endlich zu begegnen. 
Ihr finsterer Blick begegnete dem stechenden eines Jungen in der letzten Reihe, einem, den Annika insgeheim bei den Rabauken der Klasse einsortiert hatte. Ein Paar smaragdgrüner Augen blickte ihr entgegen und einen Moment lang hielt Annika inne, ehe sie irritiert die Stirn runzelte. Rotes Haar und derartig intensiv grüne Augen waren nun wirklich eine Seltenheit, und das überall auf der Welt, nicht nur hierzulande. 
Der Blick des Jungen war ernst, er sah beinahe schon so gereizt aus, wie Annika sich fühlte, doch als er nun in ihr Gesicht blickte, stahl sich ein breites, merkwürdig triumphierendes Lächeln auf seine Züge, und er bettete den Kopf auf seine vor ihm auf dem Tisch ausgebreiteten Arme, um Annika weiterhin … anzustarren. Oder vielleicht versuchte er auch, sie nieder zu starren. Es war schwer zu sagen. 
Unwillkürlich musste Annika schlucken, der Blick ihres Mitschülers jagte ihr eine unangenehme Gänsehaut den Rücken hinunter, und schnell wollte sie sich wieder umdrehen, als sie einen zweiten Blick bemerkte, der sie regelrecht zu durchbohren schien. 
Ihr Blick blieb bei einem weiteren Jungen hängen, den sie zuvor ebenfalls schon einmal kurz gemustert hatte. Annika hatte ihn gedanklich in die Kategorie der Träumer eingeordnet, weil er, wann immer sie kurz zu ihm gesehen hatte, nicht wirklich bei der Sache gewesen zu sein schien. Wen wunderte es, der Unterricht war ja auch ziemlich öde, da konnte die Lehrerin noch so nett sein … Und es passte zu ihm, ein Träumer zu sein, seine ganze äußere Erscheinung. Er hatte große, kindliche Augen und war, soweit Annika das von ihrem Sitzplatz aus beurteilen konnte, auch ziemlich klein für sein Alter. 
Der Junge saß, obwohl sie im Augenblick Pause hatten, noch immer alleine an seinem Fensterplatz, den Kopf an seiner Hand abgestützt, doch anstatt wie während der Schulstunde aus dem Fenster zu sehen, schenkte er Annika nun ein ganz ähnliches Lächeln wie der Rothaarige es zuvor auch aufgesetzt hatte, es war ein verschlagenes Grinsen, es lag so etwas wie Spott und Hohn darin, ganz unverhohlen, aber auch eine Art … Gier?
Was zum Teufel?, dachte Annika da und drehte sich wieder nach vorne, hielt mit der rechten Hand ihr Skizzenbuch fest, während sie mit der linken weiterzeichnete. Und sie bemerkte, wie sehr ihre Hand zitterte. Sie war schrecklich angespannt … Oder war da noch mehr, das sie zittern ließ?
Unsinn. Als ob ich wegen den beiden … Sie hielt einen Moment lang inne, dann drehte sie sich noch einmal um, fasste zuerst den Jungen am Fenster ins Auge und sah dann noch einmal zu dem Rothaarigen, und dann wieder zurück. 
Beide hatten sie nicht aus den Augen gelassen, nacheinander begegnete ihr Blick dem Blitzen dieser unheimlichen Seelenspiegel, gefolgt von schneeweißen Zähnen, die deutlich zu erkennen waren, als die Jungen wieder dieses schauerliche Grinsen aufsetzten. 
Die haben doch eine Schraube locker, sagte Annika sich und drehte sich langsam wieder nach vorne, kopfschüttelnd. Oder sie wollen mich ärgern, dachte sie dann, tatsächlich verärgert. Möglicherweise versuchen sie auch, mich zu verunsichern. Ärgerlich radierte sie ein paar Bleistiftlinien weg. Und sie haben auch noch Erfolg damit.
Sie biss die Zähne zusammen und schmierte schnell eine Karikatur ihrer alten Schule in ihr Heft und wusste selbst nicht so wirklich, warum. Sie sehnte sich auch so schon viel zu sehr nach ihrer Heimat, einer gewohnten Umgebung. Warum musste sie es sich selbst auch noch so unnötig schwer machen? Ich weiß es nicht, antwortete sie sich selbst müde und legte den Kopf auf ihre Arme und wartete einfach ab. 
Als der Schulabend dann endlich vorbei war, packte Annika eilig ihre Sachen und lief hinaus in den Flur. Sie wollte nur noch weg von diesem Ort … Na ja, und von diesen beiden unheimlichen Jungen, die sie angestarrt hatten, als würden sie weiß-Gott-was planen. 
Der Schulhof wurde nur von ein paar Laternen erhellt, und an der unbefahrenen, einfach asphaltierten Straße war es sogar vollkommen dunkel. Großartige Eliteschule, dachte Annika mürrisch und seufzte, atmete tief die kalte Nachtluft ein und versuchte, irgendwelche positiven Eindrücke zu sammeln, die sie mit nach Hause nehmen konnte, um sich eine weitere Nacht in einem fremden Land zu versüßen. 
Doch irgendwie wurde sie nicht fündig. 
Ja, die neue Schule war schön und ihre Klassenlehrerin nett, aber das genügte nicht, um sich den Umzug schönzureden. Dafür hatten der Aufenthalt am Flughafen, die Kontrollen, der Flug an sich, die stundenlange Bahnreise und der darauffolgende Einzug viel zu sehr an Annikas Nerven gezerrt, von dem Grund dieses Tapetenwechsels ganz zu schweigen. Sie war am Ende mit den Nerven und wusste nicht einmal, was sie hier überhaupt sollte. 
Schließlich schulterte sie endlich ihre Tasche und nahm sich zusammen, um ihren Heimweg anzutreten. Hoffentlich finde ich den Weg, dachte das Mädchen erschöpft und blickte die sanft ansteigende Straße entlang, die von einigen dunkel begrünten Bäumen, vermutlich Eichen, gesäumt wurde. Annika hatte keine Lust, sich zu verlaufen und am Ende auch noch ihren Vater anrufen zu müssen, damit er sie nach Hause lotste. 
Gerade als sie den ersten Schritt machen wollte, schlossen sich plötzlich fremde, kalte Finger um ihr Handgelenk und Annika entfuhr ein erschrecktes Keuchen. „Du bleibst hier“, raunte eine ihr unbekannte, raue Stimme, in der unverkennbar ein triumphierendes Grinsen lag, und ehe Annika reagieren konnte, hatte dieser Jemand, zu dem die Hand gehörte, sie zu sich herumgedreht und Annika mit dem Rücken gegen den Stamm einer der Eichen gedrückt. 
Nun stieß Annika einen spitzen Schrei aus, doch dann legte sich plötzlich von hinten eine kalte Hand über ihren Mund und erstickte jeden weiteren Laut, den sie von sich geben wollte, um auch nur irgendwen auf sich aufmerksam zu machen. Doch niemand hatte sie gehört und kein weiterer Laut entkam ihr. 
„Na, na, Bitch-chan …“, säuselte eine weiche Stimme. „Nicht so laut, wir wollen doch nicht, dass uns jemand hört, nicht wahr?“ Ein vergnügtes Glucksen folgte diesen amüsierten Worten. 
Annika hatte instinktiv die Augen geschlossen, doch nun öffnete sie sie wieder und versuchte zugleich, diese Hand loszuwerden, doch ohne ihre eigenen Hände, die nun beide an den rauen Baumstamm gedrückt wurden, war ihr das vollkommen unmöglich. Ihr Herz pochte wie verrückt und Panik wallte in ihr auf, aber sie konnte nicht mehr von sich geben als ein leises, verschrecktes Wimmern. Zugleich war ihr Denken wie gelähmt. 
Allerdings war es, als hätte ein Hammerschlag sie geweckt, als sie nun in zwei unverkennbar grün schimmernde Augen blickte, die sie wiederum voller Gier musterten. Der Junge von vorhin, schoss es Annika durch den Kopf, ehe sie zögerlich zur Seite schielte, wo nun der zweite Junge stand, der ihr nach wie vor den Mund zuhielt. Und auch da blitzten ihr grün leuchtende Katzenaugen entgegen. 
„Wagt es nicht, sie vor mir zu beißen“, mischte sich nun eine dritte Stimme ein, die Annika ebenfalls noch nie gehört hatte, aber sie klang jung und klar und sofort blitzte in ihrem Kopf das Bild dieses Jungen auf, der in ihrem Klassenzimmer am Fenster gesessen hatte, doch sie konnte den Besitzer dieser Stimme nicht sehen, er stand direkt hinter dem ersten Jungen. 
„Tch“, machte dieser nun, während er nach wie vor Annikas Handgelenke festhielt, und er klang wenig begeistert. Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter. „Und was willst du dagegen tun, Gartenzwerg?“, wollte der Rotschopf abfällig wissen, ehe er sich wieder umwandte, ein unheilvolles Lächeln lag auf seinen Lippen, über die nun seine Zunge fuhr. „Ich habe ihr Blut zuerst wahrgenommen, und ich bin es auch, der zuerst davon trinken wird“, verkündete er nun mit rauer Stimme. „Damit wir uns da richtig verstehen“, setzte er in einem noch dunkleren, noch furchteinflößenderen Ton hinzu. 
Trinken? Blut?, dachte Annika entsetzt, war jedoch noch immer nicht in der Lage, sich zu regen. Einzig und allein ihre Gedanken rasten, jedoch ohne ein sinnvolles Gesamtbild zu ergeben. Sie hatte nur Angst. Schreckliche Angst. 
„Hey, hey, Ayato-kun … Wie wäre es, wenn wir sie alle gleichzeitig beißen?“, fragte nun der zweite Junge, der dem ersten sehr ähnlich sah. „Stell’ dir nur vor, wie sehr sie das quälen wird …“ In seiner Stimme lag etwas absolut Abscheuliches, das in Annika nichts als Übelkeit verursachte. Etwas abgrundtief … Dunkles. Ein dunkles Begehren, ein finsteres Verlangen. Das Verlangen nach … Blut? Und nach Elend, nach Leid. 
„Mir egal“, schnaubte Ayato nur. „Ich will nicht warten, das ist alles.“ Er ließ eines von Annikas Handgelenken los und fuhr mit seinen Fingerspitzen über ihren Hals, seine Berührung ließ das Mädchen vor Angst und Ekel erschaudern. Er grinste noch breiter. „Es ist schon jetzt so stark … als würde es bereits aus ihr herausfließen …“ 
„Es ist absolut betörend“, pflichtete ihm der andere Rotschopf mit verzückter Stimme bei und atmete tief die kalte Nachtluft ein. „Man traut sich kaum, sie zu beißen …“ 
Da realisierte Annika mit einem Mal, dass sie wieder eine Hand freihatte, und schnell stemmte sie sich gegen Ayato, versuchte, ihn von sich zu schieben und vor allem, ihre andere Hand aus seinem Griff zu lösen, doch er griff nur wieder nach ihrem Handgelenk und schob es zurück an die Baumrinde, so mühelos, als leiste Annika überhaupt keinen Widerstand. 
„Warum sollten wir zögern?“, wollte der dritte Junge wissen und obwohl Annika sein Gesicht nicht sehen konnte, weil er noch immer direkt hinter Ayato stand, hörte sie, wie er missmutig die Stirn runzelte. Dann kam er näher und Annikas Ahnung bestätigte sich, es war der Junge am Fenster, der Träumer mit den großen Augen und der weißen Haut. 
„Ayato-kun möchte diesen besonderen Moment noch ein kleines bisschen länger genießen … Nicht wahr, Ayato-kun?“, wollte der zweite wissen und lachte wieder leise, ehe er sich zu Annika beugte und ihren Duft einatmete, seine Nasenspitze berührte ihren Hals und sie zuckte zurück, als hätte sie eben etwas absolut Widerwärtiges gestreift. „Bitch-chan … dein Blut ist etwas ganz Besonderes … Ganz und gar unwiderstehlich.“ Der Rothaarige seufzte. „Ich fürchte, ich kann nicht noch länger warten, Ayato-kun …“
Im nächsten Moment schrie Annika schmerzerfüllt, aber vor allem erschrocken auf, als er ihr plötzlich einfach so in die Schulter biss, doch der Laut wurde ebenfalls von seiner Hand gedämpft, nicht mehr als ein erbärmliches Wimmern drang nach außen. 
„Tch“, machte Ayato ärgerlich, dann lehnte er sich ebenfalls nach vorne, drückte Annika mit seinem Oberkörper so eng an den Baumstamm, dass ihr beinahe die Luft aus den Lungen gepresst wurde, und dann folgte mit einem Mal der nächste Biss. 
Ayatos Zähne gruben sich tief in Annikas Hals, und ehe sie das auch nur im Ansatz begriffen hatte, bohrte sich schon das nächste Paar spitzer Eckzähne in ihren linken Oberarm. 
Ihr gepeinigtes Schluchzen wurde ebenfalls verschluckt. 
Alles Winden und Zerren war vergebens, die drei Jungen hatten sie vollkommen bewegungsunfähig gemacht und so schrecklich wehrlos, dass Annika nichts anderes übrigblieb, als die Augen zu schließen und es zu ertragen. 
Was soll ich ertragen?, dachte sie verwundert, beinahe ruhig. Was passiert mit mir? Die Panik wurde überschattet von schierem Unverständnis. Sie spürte unangenehm den Schmerz pulsieren an ihrer Schulter, ihrem Hals und ihrem Oberarm, und es war ein kalter Schmerz, eigenartig, unbekannt. 
Und sie begriff, was gerade passierte, so unwahrscheinlich es auch war, aber sie konnte deutlich spüren, wie spitze Eckzähne ihre Haut durchbrochen hatten und warmes Blut aus den frischen Wunden floss … in die Münder der drei Jungen, die sie nach der Schule überfallen hatten, um ihr Blut zu trinken.  Vampire.
Sie erschauderte, als der Rothaarige zu ihrer rechten Seite kurz von ihr abließ, sein kalter Atem streifte ihre von seinem Speichel feuchte Haut und er seufzte genießerisch. „Bitch-chan … dein Blut ist absolut umwerfend …“, hauchte er beinahe wie benommen und biss noch einmal zu, wieder gab Annika einen Schrei von sich, den niemand hören sollte. 
Es vergingen noch etliche endlos lange Minuten, in denen sich ihre Mitschüler an ihrem Blut bedienten, dann plötzlich hörte Annika Stimmen, und Hoffnung machte in sich in ihr breit, vor allem, als auch die drei Jungen von ihr abließen und die Köpfe hoben. 
„Tch. Verdammt“, knurrte Ayato ärgerlich. 
„Hm. Wir sollten uns nicht erwischen lassen“, meinte der andere Rothaarige nüchtern. 
„Wir sollten sie mitnehmen“, schlug der Kleinste vor und griff nach Annikas Kinn, zwang sie, ihn anzusehen. Und nun schlich sich wieder dieses verschlagene – nein, dieses absolut wahnsinnige – Lächeln auf seine Lippen. „Sie wird eine hübsche Puppe abgeben“, meinte er mit engelsgleich sanfter Stimme und lachte leise. 
Annika wollte sich ihm entziehen, doch da wurde sein Blick auf einmal schier mörderisch und seine Fingernägel schnitten in ihre Haut, sie waren nicht nennenswert scharf, nein, das war es nicht. Aber hinter diesem Griff steckte eine nahezu barbarische Kraft, als ob der Junge ihr ohne Weiteres mit nur zwei Fingern den Kiefer brechen könnte. 
„Ihr Blut hat einen unbeschreiblichen Geschmack“, meinte Ayato lediglich ernst, vollkommen ungerührt. „Aber als eine von deinen Puppen hat sie keinen Wert mehr für uns, Kanato.“ 
Der zweite Rothaarige lachte erneut leise. „Ich stimme Ayato-kun zu. Wir lassen sie hier und trinken ein andermal wieder von ihr.“ Sein Blick suchte den von Annika, und sie konnte gar nicht anders, als ihm angsterfüllt in diese unglaublichen Augen zu sehen. „Sei ein gutes Mädchen, Bitch-chan, und warte auf uns.“ Er zwinkerte ihr beinahe schelmisch zu. 
„Hmpf“, machte Ayato nun und ließ Annika los. „Es ist wohl nur einer von diesen Mukamis“, brummte er. „Also kein Grund zur Sorge.“ Nichtsdestotrotz trat er einen Schritt von Annika weg und verschränkte die Arme vor der Brust, sah finster auf sie herab. 
„Er wird sie uns wegnehmen“, wandte Kanato missmutig ein. 
„Keine Sorge, Kanato-kun“, meinte der zweite Rothaarige und winkte ab. 
In diesem Augenblick wurden die Stimmen lauter. 
„Wo zum Teufel willst du denn hin?“, wollte eine männliche, laute Stimme wissen, die wahrscheinlich auf dem ganzen Schulgelände noch gut zu vernehmen war. 
„Raito ist direkt nach dem Klingeln aus dem Klassenzimmer verschwunden“, erwiderte eine zweite, weibliche Stimme, sie klang gehetzt. „Und da dachte ich mir, dass …“ Die Stimme verstummte, als ihre Besitzerin vor den drei Vampirjungen zum Stehen kam. „Oh“, machte sie nur, ihr Blick war ernst, etwa genauso ernst wie der von Annikas Mitschülern. 
Hinter der neuen Mitspielerin kam ein wahrer Riese von einem Mann zum Stehen, sein Blick war gereizt. Genervt schnalzte er mit der Zunge. „Jetzt hör’ mal, mich interessiert nicht die Bohne, mit wem diese verdammten Sakamakis ihre Zeit verplempern“, knurrte er. 
„Schön, mich aber“, erwiderte das Mädchen, dessen lange schwarze Haare sanft im kalten Nachtwind wehten, ruhig, aber dennoch ein wenig bissig, dann verschränkte sie ebenfalls die Arme vor der Brust und ging entschlossen auf die drei Jungen zu. „Verschwindet, und zwar auf der Stelle!“, befahl sie den Vampiren zischend, ihre Augen schienen Funken zu sprühen. 
Da nahm der Rothaarige endlich seine Hand von Annikas Mund und obwohl alles in ihr schrie, dass sie die Flucht ergreifen sollte, glitt sie, vollkommen verstört, nur an der Rinde des Baums hinab, kam auf dem kalten, feuchten Boden zum Sitzen. 
Die drei Vampire unterdessen zeigten sich von dem Mädchen vollkommen unbeeindruckt. Ihre Blicke waren herablassend, Ayatos Blick wirkte regelrecht angewidert, Kanatos Blick war einfach nur finster und in dem Lächeln des Dritten lag nichts als falsches Mitleid. 
„Hime-chan, glaubst du nicht, dass du den Mund ein bisschen voll nimmst?“, wollte ebendieser Rothaarige, der den Namen Raito tragen musste, nun bedauernd wissen und hob die Hand, das Mädchen wich nicht zurück. „Du solltest … niemals vergessen, wer wir sind“, raunte er und mit einem Mal klang seine Stimme noch unheilvoller. 
Das Mädchen, das er Hime genannt hatte, funkelte ihn nur herausfordernd an, sagte aber nichts, stattdessen schlug sie seine Hand weg, die sich auf ihre Schulter gelegt hatte. 
„Ich werd’ dir da bestimmt nicht raushelfen, dass das klar ist“, teilte ihr nun der Riese mit, der mit ihr gekommen war, und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, um seine Passivität, die er gerade verkündet hatte, noch zu unterstreichen. 
„Ihr solltet euch schämen, einfach so ein nichtsahnendes Mädchen anzufallen!“, schalt die Schwarzhaarige ungeachtet ihres Begleiters die drei Jungen. „Ich weiß, das trifft bei euch alles auf taube Ohren, aber es macht mich wütend!
Der Rothaarige, der Hime am nächsten war, lachte wieder kurz auf. „Du bist so süß, wenn du sauer bist, Hime-chan“, feixte er amüsiert. Dann griff er erneut nach Himes Schulter. „Kann es vielleicht sein … dass du eifersüchtig bist, Hime-chan?“, fragte Raito mit bedrohlich gesenkter Stimme und wollte sich nach vorne lehnen, um sie ebenfalls zu beißen, als ihn plötzlich das Knie des Riesen in der Magengrube traf. 
Der Tritt sorgte nicht nur dafür, dass Raito Hime losließ, die Wucht riss ihn sogar von den Füßen und beförderte ihn auf den Boden, direkt neben Annika, die noch immer an dem Baumstamm lehnte und nun erschrocken zurückzuckte, doch um mehr zu tun, fühlte sie sich viel zu betäubt und zu schwach. Nie und nimmer hätte sie aufstehen können. 
Unterdessen verließ ein schmerzerfülltes Ächzen die Kehle des Vampirs. 
Annika schluckte, als sie das sah, und blickte nun wieder zu dem Mädchen und ihrem Begleiter auf. Diese beiden – ganz gleich wer oder was sie waren – waren möglicherweise diejenigen, die ihr helfen konnten … Denn sie brauchte Hilfe!
Der Riese mit den langen, hochgesteckten Haaren trug nun eine noch finsterere Miene zur Schau. „Nur damit das klar ist – ich habe dir nur den Hals gerettet, weil Azusa es mir niemals verzeihen würde, wenn dir etwas zustieße!“, echauffierte er sich nun. 
Das Mädchen lächelte nur gequält. „Ich weiß, Yuma-kun, ich weiß.“ 
„Tch“, machte Yuma ärgerlich, dann machte er eine eindeutige Kopfbewegung zu den Jungen hin. „Seht zu, dass ihr Land gewinnt, ihr jämmerlichen Aristokraten.“
Die beiden Vampire, die noch auf ihren Füßen standen, schenkten den neu Dazugekommenen einen mörderischen Blick, doch dann wichen sie einen Schritt zurück und waren im nächsten Moment verschwunden. Auch Raito, den der Riese auf den Boden befördert hatte, rappelte sich nun auf und machte sich dann ebenfalls aus dem Staub. 
„Tch. Feiglinge“, schnaubte Yuma herablassend. 
Das Mädchen kümmerte sich nicht länger um ihn, stattdessen lief sie zu Annika und kniete sich neben sie. „Hey. Ist … soweit alles gut bei dir?“, wollte sie eilig wissen. 
Annika konnte ihr nicht antworten. Ihr war schwindlig und übel und überhaupt … Es war so schrecklich kalt. Der Schock, die Angst, die Verwirrung, all das brach nun über sie herein. Am liebsten wollte sie weinen, aber … sie konnte nicht. 
„Yuma, wir müssen sie mitnehmen“, sagte Hime in nüchternem Tonfall. 
Annika hörte die Worte nur durch einen milchigen Schleier, sie begriff ihre Bedeutung nicht und konnte nicht darauf reagieren. Sie wusste nur eins – vielleicht hatte sie Hilfe von diesem Mädchen namens Hime zu erwarten. Schlimmer konnte es ohnehin nicht kommen …
„Hah?!“, machte Yuma ungläubig, als er Himes Worte vernahm. 
„Sie braucht Hilfe“, erklärte das Mädchen ihm ungeduldig. 
„Schön, dann hilf ihr“, erwiderte ihr Begleiter trocken. 
„Yuma, ich brauche auch deine Hilfe, bitte!“ Nun klang das Mädchen wirklich flehend, und ihre Hand legte sich auf die von Annika. 
„Tch. Ich glaub’s ja nicht“, brummte der Riese lediglich. 
„Bitte. Haru würde das auch wollen“, meinte das Mädchen leise. 
Eine kurze Weile war es still zwischen ihnen. „Na schön“, knurrte Yuma dann und plötzlich umfassten zwei kräftige Hände Annikas Taille, und ehe sie sich versah, wurde sie in die Luft gehoben und wie ein Mehlsack über seine Schulter geworfen. 
„Warte, nicht so grob, Yuma!“, rief das Mädchen, das Annika gerettet hatte, noch aus, dann schlug Annikas Kopf hart gegen seinen Rücken und ihr wurde schwarz vor Augen. 

* ~ * ~ * ~ *

Schönen guten Tag ;) Da bei mir heute am ersten Schultag Spanisch entfällt, dachte ich mir, lade ich doch zur Abwechslung mal früh morgens was hoch ... Und ... das hat jetzt absolut nichts zur Sache getan xD
Tja, ich hoffe, euch hat der Auftakt gefallen ^.^ Mehr gibt's dazu eigentlich auch noch nicht zu sagen. 
Außer vielleicht an alle, die zum ersten Mal eine DL-FF von mir lesen - für diese Geschichte bietet es sich tatsächlich an, meine letzten Fanfictions Seductive Scent (Kou x OC), Bloody Incision (Azusa x OC) und Fervent Love (Yuma x OC) in dieser Reihenfolge gelesen zu haben. Es sei denn, ihr stört euch nicht an einem wuselnden Haufen unbekannter OCs. Geht natürlich auch. 

Noch kurz ein Funfact zum Schluss, den ich eigentlich nicht beabsichtigt hatte - der 24. April ist Rukis Geburtstag, und das feiere ich irgendwie schon ziemlich xD Also dann ... alles Gute ... oder so ähnlich xD
Macht's gut :)

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