Nicht allein

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Es war ein einziges Déjà-vu. 
Annika fühlte sich in der Zeit zurückversetzt, um genau zu sein genau um zwei Wochen, als sie vor ihrer neuen Klasse in der Abendschule gestanden und keinen Ton herausgebracht hatte. Es war dieselbe Situation, ähnlich bedrückend. Und doch war es anders dieses Mal. 
Annikas Denken war weniger düster als damals, sie blickte der Zukunft mit ein wenig mehr Optimismus entgegen. Die letzten Wochen hatten ihr gezeigt, dass es weit Schlimmeres gab, als ein neues Leben zu beginnen, in eine neue Klasse zu kommen und fremd zu sein. All diese Dinge bedeuteten nichts, wenn man das Beste daraus machte. 
Darum riss sie sich nun auch zusammen und wagte es, sich ihrer neuen Klasse selbst vorzustellen, auch wenn sie sich kurzfasste, doch anders als damals verschwendete sie nun keinen Gedanken mehr daran, wie die anderen es auffassten, dass sie kein perfektes Japanisch sprach. Sie hatte sich bemüht und ein Ergebnis vorzuweisen, das war das Wichtigste. 
Und als sie sich nun neben eine ihrer neuen Klassenkameradinnen setzte, lächelte sie sie zwar schüchtern, aber freundlich an und das Mädchen erwiderte die Geste beinahe genauso zaghaft, aber erfreut. Es war ein zierliches Mädchen mit kindlichen Gesichtszügen und weich aussehendem, dunkelbraunem Haar, das ihr bis zur Mitte des Rückens fiel. 
„Hey … also ich bin Annika“, stellte Annika sich noch einmal vor. 
„Ich bin Aki“, sagte das Mädchen und musterte Annika beinahe staunend, vor allem ihre golden schimmernden Locken. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ 
„Mich auch“, erwiderte Annika und setzte sich auf ihren neuen Platz in der ersten Reihe. 
Als der Unterricht begann und Annika ihre Stifte auspackte, schob Aki ein wenig zögerlich ihr Mathematikbuch zu Annika hin, damit sie mit ihr hineinsehen konnte. 
„Dankeschön“, sagte Annika und warf kurz einen Blick auf den Unterrichtsstoff, stellte erleichtert fest, dass sie dieses Thema bereits kannte. Das würde es ihr einfacher machen, Anschluss an die Klasse zu finden. „Hey“, meinte Annika schließlich mit gesenkter Stimme, damit sie den Unterricht nicht störte. „Ich kenne mich hier ja noch nicht aus … Würdest du mir in der Pause kurz die Schule zeigen?“, fragte sie einfach gerade heraus. 
Aki sah Annika daraufhin überrascht an. „E-ehrlich?“, stammelte sie und schien vollkommen verblüfft zu sein. „Ja, klar!“, nickte sie dann eilig. 
Annika schmunzelte. „Warum so überrascht?“ 
Aki sah verlegen auf ihre Hände, das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht. „A-also … ich gehöre nicht eben zu den Beliebtesten der Klasse. Also wenn du lieber mit den anderen …“ 
„Ich glaube aber, dass du viel netter bist“, unterbrach Annika das unsicher vor sich hin stotternde Mädchen lächelnd. „Also … wenn es dir keine Umstände macht, würde ich mir wünschen, dass du mir deine Schule zeigst.“ 
Zögernd lächelte Aki. „O-okay“, meinte sie mit leider stimme. „Ja, gerne, das stört mich überhaupt nicht“, setzte sie dann glücklich hinzu. 
Annika nickte zufrieden. „Okay. Ich bin sehr froh, dass ich nicht alleine bin.“ 
Aki lachte leise. „Ich auch“, sagte sie. 
Als die Schule nach sieben Stunden endete und Aki Annika einmal durch das Schulgebäude geführt hatte, gingen die beiden Mädchen gemeinsam zu einer der in der Nähe der Schule befindlichen Bushaltestellen und stellten dort fest, dass sie denselben Bus nehmen mussten, Aki jedoch zwei Stationen früher ausstieg als Annika. 
Und so redeten sie noch miteinander, während sie auf den Bus warteten, und auch als sie einstiegen, plauderten sie noch angeregt miteinander. Annika erzählte Aki von ihrer Heimat und ihrem Umzug, ihrem Vater und auch kurz davon, wie es dazu gekommen war, dass sie die Schule innerhalb weniger Tage erneut gewechselt hatte. 
„Ich habe auch schon ein paar Mal daran gedacht, die Schule zu wechseln“, meinte Aki daraufhin mit leiser Stimme und lehnte den Kopf an die Glasscheibe des Busses. „Aber meine Noten sind nicht gut genug, als dass ich problemlos auf eine andere Eliteschule wechseln könnte. Darum habe ich die letzten anderthalb Jahre an dieser Schule festgesteckt und das wird sich bis zu meinem Abschluss wohl auch nicht mehr ändern.“ 
„Warum? Was ist so schlimm an eurer Schule?“, wollte Annika verwundert wissen. 
„Na ja … Wir haben zwar sehr freundliche Lehrer, aber die können nichts gegen diese coolen Kids machen, die glauben, es würde von Stärke zeugen, wenn man Kleinere drangsaliert. Es gibt viele Cliquen, und diejenigen, die keinen Anschluss gefunden haben, sind ihre Opfer. Man kann sich nicht dagegen wehren“, erzählte Aki niedergeschlagen. 
„Hm“, machte Annika nachdenklich. „Es gibt immer solche, die sich über Kleinere und Schwächere und die, die sonst niemanden haben, stellen.“ 
„Daher … hätte ich auch nicht gedacht, dass du zu jemandem wie mir Kontakt knüpfen würdest. Ich meine … niemand möchte doch ins Fadenkreuz dieser Cliquen geraten …“ 
„Nein, das ist echt nicht schön“, bestätigte Annika. „Aber so eine Rangordnung muss nicht sein. Und jetzt bist du nicht mehr alleine, okay?“ 
„D-du meinst …“, stotterte Aki verwundert. 
Annika nickte. „Ich möchte gern deine Freundin sein, wenn du nichts dagegen hast.“ 
Akis Unterlippe zitterte. „D-das … das hat noch nie jemand zu mir gesagt“, hauchte sie verwundert und klang vollkommen überrumpelt. 
„Es ist wichtig, dass man jemanden hat, der für einen da ist“, sagte Annika aufmunternd. Sie lächelte, als sie an Hime, Harumi und Noriko dachte, und auch an ihre blutsaugenden Freunde. „Und ich finde dich nett und wir verstehen uns doch gut“, setzte sie dann hinzu. 
Aki nickte leicht. „Ja, du hast … Recht“, wisperte sie, dann stahl sich ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht und sie wandte den Blick ab, doch das Lächeln verschwand nicht.
Auch Annika lächelte und sah aus dem Fenster. 

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