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„Es existieren keine zwei Individuen in derselben Wirklichkeit. Ob virtuell oder nicht macht dabei keinen Unterschied." Quinea Matje (Neumoderne Philosophin)

Wie jedes Mal, wenn ich eine Simulation verlasse, braucht mein Verstand einen Moment um sich an die veränderten Umstände zu gewöhnen und bestraft mich dafür mit einem augenblicklichen Schwindelgefühl.
Mit einer Hand halte ich mich an der Stuhllehne fest -nur zur Sicherheit- während ich darauf warte, dass das bekannte Unwohlsein vorübergeht, an das ich mich einfach nicht gewöhne, egal wie oft ich es schon durchlebt habe. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kommt die Welt wieder zum Stillstand und ich beginne die vertrauten Umrisse meines Zimmers um mich herum wahrzunehmen.
Da ist der kleine Nachttisch im Farbton „Siena Natur" neben meinem Bett, auf dem wahllos verstreut noch die Kleider von gestern herumliegen und die lichtgrüne Wand darüber, die ich fast komplett mit alten Fotografien beklebt habe.
Einige der Fotos stammen noch von Großmutter, andere habe ich auf Flohmärkten oder in Antiquitätenläden erbeutet und wieder andere waren Screenshots die ich in Simulationen gemacht habe, weil sie mich irgendwie angesprochen haben.
Am innigsten liebe ich die ganz alten Abbildungen, die ich in einer kleinen Dose in meinem Nachtisch aufbewahre, weil ich fürchte sie würden mir an der Wand auseinanderfallen.
Darunter sind Aufnahmen von alten Stadtlandschaften, besonders das Kino mit den Plakaten an der bröckelnden Fassade beeindruckt mich, und einem jungen Pärchen, das immer diese seltsamen Hosen trägt. Oma nannte sie Jeans.
Ich benutze all diese Bilder als Vorlagen um im Editor ähnliche Szenarien für meine individuellen Wirklichkeiten zu erstellen. Diese sind dann mehr oder weniger detailgetreu, je nachdem wie gut mir meine Vorlage gefällt.
Die individuellen Wirklichkeiten sind einige Jahre nach BU groß in Mode gekommen, als die Menschen erkannt haben, dass eine gemeinsame Wirklichkeit ihre persönliche Entfaltung stärker einschränkt, als ihnen bisher bewusst gewesen ist.
Plötzlich konnte zum Beispiel ein religiöser Fanatist seine eigene Vorstellung von der Welt schaffen ohne dabei die der anderen verletzen zu müssen. Er gibt einfach im Editor ein, dass nur Gleichgläubige sich in seiner IW einloggen können und das Problem ist gelöst.
Aber nicht einmal die Gleichgläubigen, die nun seine Wirklichkeit besuchen, sind an die im Editor erstellte Simulation gebunden. Stattdessen können sie in ihrem eigenen Editor Angaben über ihre persönliche Wahrnehmung der Wirklichkeit machen. So ist es möglich, dass sich zwei Leute unter ganz unterschiedlichen Umständen zur selben Zeit treffen können. Nur weil einer der beiden glaubt ihr Treffen fände in einem gemütlichen Café statt, muss der Andere sich dieser Vorstellung nicht länger beugen, sondern kann ihr Treffen zeitgleich am Strand liegend erleben. Der individuellen Auslebung der eigenen Bedürfnisse sind so also keine Grenzen mehr gesetzt. Das zumindest sagt die Werbung.
Ich bin mir da nicht immer ganz so sicher.
Aus einem spontanen Impuls heraus wende ich mich wieder meiner IW-Station, deren Design einer alten Spielekonsole nachempfunden ist, zu und scrolle durch die Standbilder der letzten Simulation bis ich ein gutes Bild gefunden habe. Dann gebe ich den Befehl zum Ausdrucken.
Da Drucker im Zuge der gesamten Digitalisierung irgendwann mehr oder weniger überflüssig geworden sind, besitze ich nur so eine alte Kiste, die im Schneckentempo arbeitet, weil sie jede Pixelreihe einzeln druckt. Ich weiß echt nicht wie die Leute früher je mit irgendetwas rechtzeitig fertig werden konnten, wenn all ihre Geräte so umständlich arbeiteten. Nur weil ich noch ein Handy benutze und auf alte Fotos stehe, bedeutet das ja nicht, dass ich die Errungenschaften der neumodernen Technik nicht zu schätzen weiß. Ich komme ja nicht aus der Steinzeit. Ich bin nur...naja, retro.
Immerhin habe ich jetzt die Zeit um nach den Nachrichten zu sehen, die mich so abrupt aus der Simulation gerissen haben. Nach einigem Hin und Herwerfen von Kleidungsstücken finde ich mein Handy auf dem Bett, wo es, wegen eines anhaltenden Stroms neuer Mitteilungen, still und leise vor sich her blinkt. Neben den üblichen Nachrichten von BU, die mich entweder daran erinnern sollen, dass ich heute noch etwas nur für mich tun muss, oder mich auf Dinge aufmerksam machen, die ich sonst um diese Zeit gerne unternehme, ist da auch noch eine Meldung, die mir ankündigt, dass nun neue Unterrichtsstunden in den Simulationen verfügbar sind.
Gespannt klicke ich die Meldung an. Hoffentlich hat man meinen Kunstkurs bei Herr Xanten aktualisiert. Der Unterricht bei ihm ist großartig, aber dummerweise ist mein leicht seniler Lieblingslehrer schon halb in der Rente angekommen und nimmt daher nur noch sehr wenige von den Lehrvideos auf, die für den Unterricht in die IW integriert wurden. Früher oder später werde ich den Lehrer wohl wechseln müssen, aber noch kann ich mich einfach nicht von dem alten Kauz trennen.
Doch während ich in der Liste der aktualisierten Kurse danach suche, fällt mir ein Anderer ins Auge.
Mathematik 3.14.
Meine Aufmerksamkeit erregt der Kurs bestimmt nicht durch seinen ansprechenden Namen, sondern vielmehr durch das kleine Bild daneben.
Ein junger Mann steht vor einer Schultafel, auf der in leicht krakeliger Schrift der Titel des Kurses prangt. Alles nicht so spannend, wäre nicht der junge Mann derselbe, wie der den ich gerade in der Kunstgalerie stehen gelassen habe.
Was macht denn bitte ein Mathelehrer in einer Kunstgalerie? Gibt es etwas, dass noch weniger zusammenpasst?
Kopfschüttelnd schleudere ich das Handy zurück auf die weiche Matratze und sehe nach dem Drucker, dessen lautes Seufzen mir verkündet, dass er die Seite beendet haben muss.
Ich ziehe das Bild heraus. Zwei identische Sonnenauf- oder -untergänge grinsen mir davon entgegen. Fordern mich auf ihr Geheimnis zu lösen.
Was für ein Unsinn! Entnervt ziehe ich mit beiden Händen fest daran. Doch das Geräusch von dem reißenden Papier lässt mich sofort innehalten. Was tue ich da?
Ich habe das Bild nicht ausgedruckt um es dann zu zerreißen. Nein, ich wollte es zu den Anderen an die Wand hängen.
Genau in die Mitte, über einige andere Bilder.
Und dort betrachte ich es kurz darauf. Betrachte es lange.
Dann taste ich auf dem Bett nach meinem Handy, schließe es an die IW an und wähle Mathematik 3.14 aus.
BU meldet mir in einem grünen Fenster, dass nur unter 3% der Nutzer diesen Kurs ebenfalls interessant finden und diese Entscheidung somit durch keinen Gruppenzwang ausgelöst wird, obwohl sie außerhalb meiner üblichen Interessen liegt.
Das beweist mir endgültig was ich schon lange geahnt habe: Mathe wird niemals cool werden.
Mit dieser Erkenntnis begrüße ich auch den vertrauten Schwindel. IW aktiviert meine Implantate um die Simulation vor mir aufzubauen.


Be YOUnique - Niemand ist Durchschnitt #IdeenzauberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt