Be YOUnique - Niemand ist Durchschnitt #Ideenzauber

4.

„BU hat ein wundervolles Paradox geschaffen, indem es die Menschen dazu zwingt etwas aus eigenem Willen zu tun."                                                          Mitole Kaskin (App-Kritiker)

            Falls der Vorgang dasselbe Schwindelgefühl in mir ausgelöst hat wie sonst, entgeht es mir. Mein Kopf schwirrt ohnehin schon. Mit oder ohne IW.
Zuvor habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was Durchschnitt eigentlich bedeutet.
Da ist einfach immer die Gewissheit gewesen, dass ich besonders sein will -sein muss-, so wie jeder Andere auch. Es braucht doch jeder etwas, das ihn auszeichnet.
Jeder. Das ist der Punkt.
Es kann nicht jeder anders sein. Nicht auf diese Art.
Nicht nach den Gesetzen der Mathematik. Der Logik.
Wieso ist mir das zuvor nie aufgefallen? Wieso habe ich diesen Wiederspruch nie bemerkt?
Ich stolpere, sobald ich versuche von dem Stuhl aufzustehen, dessen Form sich in meinem Rücken beinahe unbemerkt verändert hat. Offensichtlich hat der Schwindel mich doch nicht verschont.
Das Erste was ich wahrnehme, als mein Blick sich klärt, ist das Bild.
Die Bilder, eigentlich. Die Bilder, die begonnen haben auf unangenehme Art an den Grundfesten meiner Welt zu rütteln.
Was, wenn ich nichts Besonderes bin? Was bin ich dann? Einfach irgendjemand, der aus der Masse nicht heraussticht?
Kann ich das sein?
Bei dieser Frage verharre ich. Kurz verstummen all meine anderen Gedanken in einer kleinen Atempause, so als würden sie vor diesem zurückweichen. Ihm Raum geben, damit er sich in meinem Kopf ausbreiten, es sich ordentlich gemütlich machen kann.
Es ist als hätte man mir ganz ohne Vorwarnung eine Krücke genommen von der ich nicht gewusst habe, dass ich sie brauche und jetzt habe ich plötzlich Probleme aufrecht zu stehen. Schon der kleinste Gegenwind kann mich von den Füßen holen, denn da ist nichts mehr, dass ich ihm entgegensetzen kann. Ich bin instabil.
Ein beängstigendes Gefühl.
Das Piepen meines Handys ist eine willkommene Ablenkung. Natürlich ist es wieder BU mit seiner Erinnerung jetzt etwas für mich zu tun. Ich habe eigentlich keine Lust dazu.
Dennoch überlege ich was in Frage kommt. Zuhause bleiben fällt weg, da das bestimmt über 70% der Menschen vorhaben. Hat Cal nicht vorhin eine Party erwähnt?
Spontan informiere ich BU, das zwar anmerkt, dass 10% dies ebenfalls bei Abendaktivität angegeben haben, was für meine Verhältnisse sehr viele sind, aber ohne Warnung einverstanden ist.
Schnell schlüpfe ich in ein paar straßentaugliche Schuhe, schnappe mir meine Jacke vom Bett und mache mich auf den Weg zu Soany, die zum Glück nur zwei Blocks entfernt wohnt.
Der Umstand, dass Partys nicht wie die meisten anderen Dinge in Simulationen stattfinden ist dem Alkohol geschuldet. Oder besser, der Unfähigkeit unserer Forscher eine, die Wirkung von Alkohol nachahmende Komponente, in die virtuelle Welt zu integrieren.
Anfangs war das kein Problem, denn einige Jahre nach dem Erscheinen von BU sind mit dem Gruppenzwang auch so gut wie alle beliebten Rauschmittel vom Markt verschwunden.
Großartige Werbung für das Programm.
Doch aus irgendeinem Grund ist Alkohol vor einigen Jahren in Form von vielen eigenwilligen Mixgetränken und Süßigkeiten, deren außergewöhnliche Aufmachung wohl über den gewöhnlichen Inhalt hinwegtäuschen soll, aus der Versenkung aufgetaucht.
Und nun ist es wieder genau wie in alten Zeiten: Eine Party ohne Alkohol ist keine richtige Party.
Draußen beginnt es bereits zu dämmern, als ich auf die Straße trete.
Im ersten Moment halte ich inne und greife nach der Hauswand, an deren ungewohnt kalter und rauer Oberfläche ich mir beinahe die Fingerspitzen aufreiße. In der Erwartung, dass mein Kopf schummrig wird, verharre ich, aber der Schwindel bleibt aus. Natürlich.
  Mein letzter Ausflug in der Realität ist schon eine Weile her, daher habe ich fast vergessen, dass es sich genau wie die Simulationen anfühlt. Nun ja, fast. Ich kann es nicht benennen, aber etwas ist anders an der Welt außerhalb unserer Technik.
Auch wenn ich den ganzen Weg über versuche dieses Etwas zu fassen, gelingt es mir nicht und meine Überlegungen werden von dem Lärm, der mir schon bald aus Soanys Wohnung entgegenschallt, übertönt.