Der vertraute Geruch von feuchtem Holz und verrottenden Blättern stieg Faenja in die Nüstern, als sie ihre Augen an diesem wundervollen Herbstmorgen aufschlug. Die Wärme ihres Gefährten drang an ihren Rücken und sie seufzte glücklich, als sie sich vorsichtig an den goldenen Hengst mit den unzähligen Narben drückte. Faenja wollte ihn auf gar keinen Fall aufwecken. Viel zu schön war der friedliche Anblick des ehemaligen Räubers, wie er, ruhig schnaufend, mit entspannt hängenden Ohren und geschlossenen Augen tief und fest im Schlaf versunken war.
Das gesamte letzte Jahr hatten sie auf Reisen verbracht und dieser eine Moment der Stille war einer der seltenen in ihrem Leben geworden. Aber Faenja vermisste die Stille nicht. Im Gegenteil – sie sehnte sich nach dem Abenteuer.
Eine Bewegung zog in ihrem Bauch, als sie so still verharrte. Faenjas Blick wurde weicher, als er an ihrer runden Flanke herunter glitt. Lange würde es nicht mehr dauern, dann würde ihr Fohlen zur Welt kommen. Sie hoffte inständig, dass sie bis dahin eine sichere Unterkunft fanden.
Die Höhle, in der sie für die letzte Woche Unterschlupf gefunden hatten, war zwar geräumig und warm, jedoch lag sie direkt an einem Wanderpfad für Bären und Wölfe, die hier Tagein, tagaus vorbeizogen. Erren hatte schon etliche Male wilde Tiere von hier vertreiben müssen, damit sie sie nicht im Schlaf überfielen. Hier waren sie auf jeden Fall nicht sicher genug, um ein Fohlen großzuziehen.
Sanftes Plätschern drang an Faenjas Ohren und holte sie aus ihren Gedanken ins Hier uns Jetzt zurück. In der Mitte ihrer Höhle entsprang eine heiße Quelle, deren warmes, dampfendes Rinnsal sich in einem kleinen Teich in der Höhle sammelte und dadurch der kühlen Herbstluft eine angenehme Temperatur verlieh.
Zum Baden war das Wasser zu heiß und trinken konnte man es auch nicht, denn es schmeckte ganz scheußlich. Aber es schien eine äußerst wohltuende Wirkung bei Verletzungen zu haben, deshalb hatte Faenja sich sofort mehrere kleine Fläschchen mit dem Wasser abgefüllt und in ihrer Reisetasche verstaut. Man konnte ja nie wissen, was einen auf den weiteren Reisen noch erwartete.
Ihr alter Lehrer, Grindor, wäre sicherlich sehr stolz auf sie gewesen, wenn er davor erfahren hätte, wie viel Wissen über die Heilkunst sich die junge Stute in den letzten paar Monaten angeeignet hatte.
Über den kompletten Frühling und Sommer und knapp über die Hälfte des Herbsts war Faenja nun schon mit dem weithin bekannten ›König der Räuber‹, Erren, in den Osten des Landes Skjell gereist. Sie selbst entstammte Keldor, dem Königreich des Südens, und sollte einst mit dem Prinzen Aino des Reiches Alvarr verheiratet werden. Doch sie hatte ihre Pflicht nie mit offenen Armen empfangen, hätte sie doch ihr liebstes Gut geopfert, das sie besaß. Ihre Freiheit.
Wäre sie den Bund mit dem Prinzen eingegangen, hätte sie die Mauern der Avarrsburg nicht mehr verlassen dürfen, bis Aino van Alvarr den Thron bestieg, damit seinen Vater ablöste und sie zur rechtmäßigen Königin erklärte.
Bis zu jener schicksalshaften Nacht, in der sie von Erren höchstpersönlich entführt und als Geisel genommen worden war, war sie nahezu besessen von den Geschichten und Erzählungen des legendären Räubers gewesen.
Erren hatte mit ihrer Entführung versucht, einen Streit zwischen den beiden großen Königreichen heraufzubeschwören, um sich an König Eirik von Alvarr zu rächen, der einst seine Eltern zu Unrecht auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ.
Doch es kam anders als er es geplant hatte.
Als Faenja sich weigerte zu ihrem Verlobten zurückzukehren versprach er ihr, sie zurück nach Keldor zu begleiten.
Auf ihrer Reise waren sich die beiden Pferde näher gekommen und der kratzbürstige Räuber hatte der zierlichen, feuerroten Vollblutstute sein Herz geöffnet. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie eines Tages mit ihm an ihrer Seite durchbrennen und den unbewohnten Osten des Landes erkunden würde.
DU LIEST GERADE
Erren - Das verlorene Königreich (Leseprobe)
Viễn tưởngACHTUNG: Diese Geschichte ist verfasst als eine Art Fabel, in der alle Hauptcharaktere als Pferde dargestellt sind.Ihr Verhalten ist jedoch soweit vermenschlicht, dass die Story jederzeit auf Menschen umgeschrieben werden kann. »Ein weises Pferd sa...