Kapitel 6 - Nichts als heiße Luft

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Kies knirschte unter den Hufen der Pferde, als sich die Pferde über den schmalen Weg in Richtung Stadt begaben. Till hatte Erren am frühen Abend endlich soweit überredet, dass er sich schließlich von seinem Befreiungsplan erzählen lassen hatte. Es war ein furchtbar anstrengender Nachmittag gewesen, den die Pferde hauptsächlich damit verbracht hatten, sich Tills genaue Schilderung der Ereignisse anzuhören. Letzten Endes war es jedoch Faenjas Überzeugungskraft gewesen, die den goldenen Hengst dazu veranlasst hatte, Till wenigstens eine Chance zu geben, von seinem Plan zu erzählen.

Und schon bald standen sie vor dieser alten, heruntergekommenen Bibliothek der Stadt, zu der sie das Pony gebracht hatte. Das urige Gebäude war das einzige steinerne Haus von ganz Sjørgren und hatte so offenbar allein das große Feuer überstanden, von dem Till erzählt hatte.

»Meine Frau und mein Kind sind euch unendlich dankbar!«, Till wirkte überaus erleichtert, dass Erren nun endlich keine Anstalten mehr machte, ihn anzufeinden. Doch der goldene Hengst war alles andere als überzeugt. Selbst wenn seine Frau in Gefangenschaft war – es war nicht seine Angelegenheit. Warum sollte er also seinen Hals für etwas riskieren, das ihn am Ende selbst in Gefahr bringen konnte? Es war absolut unlogisch. Aber Faenja war offenbar der Meinung, dass Selbstlosigkeit sie im Leben weiterbrachte.

Hätte sie gesehen, was er gesehen hatte, hätte sie garantiert nicht so törichte Ansichten von der Welt gehabt. Schließlich hatte Erren auch eine Zeit der Selbstlosigkeit hinter sich, die ihm nichts als Schmerz und Schande gebracht hatten. 

Der undankbare Müller, dessen Leben er hatte retten wollen, endlose Bauern, die er vor dem König van Alvarr beschützt hatte, die ihn zum Dank an die Schreiber des Königs verraten und ihn als Mörder dargestellt hatten...

Ja, er hatte gemordet. Ja, er hatte nach eigener Justiz gehandelt. Aber nur, um noch Schlimmeres vom Volk abzuwenden. Er hatte verhindern wollen, dass jemals ein Fohlen das durchmachen musste, was er durchgemacht hatte.

Doch letzten Endes war es alles unwichtig gewesen. Sein Name war nie als glorreicher Rächer in die Geschichte eingegangen, sondern als teuflischer Mörder und ehrloser Entführer der Prinzessin von Keldor. Zu einer Lösegeldforderung oder einer Kontaktaufnahme mit dem Hause Keldor war es schließlich nie gekommen. Die Pferde der Königreiche mussten ihn nun wahrscheinlich für vollkommen gestört halten. Wie ein ungezogenes Fohlen, das sich einfach nahm was es wollte, damit wie ein Feigling türmte und ungestraft mit dieser Unart durchkam.

Ein Glück, dass er nun so weit vom Geschwätz des Volkes fort war. Die Gerüchte zu ertragen, die nun nach dem Tod des Königs über ihn verbreitet wurden, hätten ihm mit großer Sicherheit den Rest gegeben. Ganz zu schweigen von der Schmach bei den anderen Räubern darüber, dass er seinen eigentlichen Plan nicht hatte durchziehen können.

Erren verkniff sich einen tiefen Seufzer. Er war einfach nicht mehr derselbe, der er früher war. Am liebsten hätte er dem Pony vor sich die Kehle durchgeschnitten, um sich selbst zu beweisen, dass er noch immer so konsequent und kaltblütig sein konnte wie damals, als er noch den Respekt seiner Räuberkollegen gehabt hatte.

Aber nein. Stattdessen stand er hier, ließ den kleinen Wolfshund mit einer verfluchten Engelsgeduld auf seinen Knöcheln herum kauen wie ein abgehalftertes Schlachtross, das nach dem Krieg in Frühpension versetzt worden war. Und dann auch noch Faenjas Gerede über Magie, Elfen und Drachen. Es war nahezu lächerlich. Er mochte es nicht zugeben, aber er vermisste die alten Zeiten. Das Abenteuer, die Aufregung, das Ziel vor seinen Augen. 

Wenn sie nur endlich weiterreisen würden, könnten sie vielleicht endlich den Ort finden, nach dem er sich sehnte. Ein Ort, an dem all das Wirklichkeit wurde. Ein Ort, an dem er endlich diese verfluchte Schmach hinter sich lassen konnte und an dem kein merkwürdiger alter Bekannter einfach vom Himmel fiel und sie darum bat für seine eigenen, dummen Fehler geradezustehen. 

Erren - Das verlorene Königreich (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt