Entführung

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 Joachim fühlte sich auf düstere Weise gefangen. Seit Wochen kehrte ein Traum in verschiedenen Variationen immer wieder. Er fuhr mit Elisabeth in einer Gondel hoch hinauf in ein Skigebiet. Sie saßen eng nebeneinander geschmiegt auf der Bank, eingehüllt in eine warme Decke. Je höher sie kamen, desto stiller wurde es. Die schneidende Kälte der Berge drang in die Gondel ein, aber nicht in ihren kleinen Kokon. Dann erreichte sie ihr Ziel – aber die Gondel war leer. Der Boden war herausgebrochen. Oft erwachte Joachim atemlos aus diesem Alptraum. Schließlich konnte er die Bilder auch tagsüber nicht mehr loswerden.

 Seine Welt war ins Bodenlose gestürzt. Und wozu all die Mühe seines Lebens, wenn er doch nicht ans Ziel kam? Wenn es vielleicht gar kein Ziel gab?

 Joachim hatte mehrmals zaghaft dazu angesetzt, Elisabeth in seine Gedanken, seine Gefühle und Zweifel einzuweihen, aber dann hatte ihn der Mut verlassen. Er war ihr aus dem Weg gegangen, und sie hatte ihn sich selbst überlassen.

 Joachims Gedanken kreisten wie in einem Vakuum unaufhörlich um den Tod und zerfraßen allmählich die Zuversicht, an der er sich all die Jahre geklammert hatte. Dass alles immer so bleiben würde mit Elisabeth und den Kindern. Nichts würde bleiben. Vielleicht läge er schon morgen tot im Bett. Welch klägliches Ende: sterben wie ein Tier, dachte er, ohne jede Vorwarnung, ohne jede Vorbereitung.

 Daran, dass Georgs Berechnungen zutrafen, hegte Joachim keinen Zweifel mehr. Wer würde schon Geld für falsches Zahlenmaterial bezahlen oder einen Mord für falsche Informationen begehen? Mit feuchten und zittrigen Händen zog Joachim die Schreibtischschublade auf. Sein Blick fiel auf die versiegelten Briefe. Er schob die Lade wieder zu.

 Gegen Ende einer durchwachten Nacht wurde die nagende Ungewissheit schließlich unerträglich. Er musste diesem Alptraum ein Ende bereiten.

 Joachim schlich aus dem Bett. Im Haus war kein Laut zu hören. Tiefe Ruhe war um ihn herum, eine fast unheimliche Ruhe. Er setzte sich an den Schreibtisch, zog die Schublade auf und nahm die Briefe heraus. Er ging in die Küche und öffnete seinen Brief vorsichtig über Wasserdampf. Niemand sollte erfahren, dass er wusste, wie viel Zeit ihm bleiben würde.

 Mit dem geöffneten Umschlag in der Hand schlich er zur Couch, setzte sich und zog den Brief vorsichtig heraus. Nach einem kurzen Zögern begann er das Datum freizurubbeln. Die Zahlen trafen ihn mit voller Wucht: Ihm sollten vier Jahre bleiben. Nur vier Jahre? Ein Abgrund öffnete sich. Seine Seele folgte der Gondel ins Bodenlose.

 *

 Am Freitag der folgenden Woche tauchte der Kommissar erneute im Institut auf. Er hatte es nicht für nötig gehalten, sich anzumelden. Georg kam der Verdacht, dass er einen Überraschungseffekt nutzen wollte.

 „Wir sind ein Stück weiter gekommen“, eröffnete Kommissar Klett das Gespräch. „Wussten Sie eigentlich, dass ihr Stellvertreter in den letzten Monaten zu beträchtlichen Geldmengen gekommen ist? Wir haben ein Nummernkonto in Liechtenstein gefunden. Die Kontonummer war als Telefoneintrag in Braaschs Terminkalender getarnt – kein besonders origineller Einfall.“

 Georg dachte an seine Tarnmanöver aus den Anfangsmonaten seiner Entdeckung. Viel geschickter hatte er sich auch nicht angestellt, als er ‚Ballett’ als Passwort eingegeben hatte. „Ein Nummernkonto in Liechtenstein? Haben Sie denn Zugriff auf ein solches Konto?“, tat er erstaunt.

 „Bei Kapitalverbrechen schon, da arbeiten sogar die Kollegen aus Vaduz mit uns zusammen, um ihre Kooperationswilligkeit unter Beweis zu stellen. Liechtenstein möchte sein Bankgeheimnis nicht aufs Spiel setzen, und das könnte bei einem massiven Streit mit der mächtigen EU leicht passieren.“

 Der Kommissar sagte das leichthin, ja fast vertraulich, aber Georg blieb auf der Hut. Adler ziehen endlose Kreise, dachte er, bevor sie blitzschnell herabstoßen. Er wollte nicht in die Fänge dieses Adlers geraten.

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