Unheimliche Briefe

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Zwei Monate vergingen, und sie bereiteten Georg wenig Freude. Alle zwölf Krebspatienten, deren Todestage er prognostiziert hatte, hielten sich an das vorhergesagte Datum, als hätten sie dem Tod ihr Versprechen gegeben. Sie starben auf den Tag genau, wenn sie weniger als einen Monat zu leben hatten. Lag der Todeszeitpunkt etwas später, stellte sich eine gewisse Unschärfe der Berechnung ein. Die Genauigkeit seiner Prognose nahm ab, je weiter der Tod in der Ferne lag. Dennoch war er sicher, mit seinen Prognosen den Todesmonat auch dann zu treffen, wenn die Apoptose erst in ferner Zukunft zuschlagen würde.

Georg hatte es aufgegeben, sich im Krankenhaus nach den Todesursachen der Verstorbenen zu erkundigen. Er wartete einfach die Berichte ab, in denen meist von Krebs als Todesursache ausgegangen wurde. Doch Georg wusste es besser.

Gewissheit hatte seine letzten Zweifel vertrieben und öfter erwischte er sich dabei, den Kopf zu schütteln, als könnte er immer noch nicht fassen, auf was er da gestoßen war. Manchmal glaubte er sein schreckliches Geheimnis hüten zu müssen, dessen Offenbarung das Leben der Menschen auf den Kopf stellen würde. Dann wiederum hoffte er, seine Entdeckung könnte sich als Segen für die Menschheit erweisen.

Hatten die Menschen nicht sogar ein Recht darauf, ihren Todeszeitpunkt zu erfahren, zumindest diejenigen, die ihn wissen wollten? Immerhin beanspruchten die todgeweihten Krebskranken der Klinik das Recht auf Wahrheit für sich. Warum sollte es Gesunden vorenthalten werden? Gab dieses Wissen den Menschen nicht die einzigartige Möglichkeit, ihrem Schicksal einen neuen, vielleicht tieferen Sinn abzuringen? Forschte er nicht im Dienste und Auftrag der Menschheit und musste sie deshalb nicht auch daran teilhaben lassen? Und waren solche Fortschritte nicht zu allen Zeiten ans Licht gedrungen, selbst wenn ihre Entdecker dies aus irgendwelchen Bedenken oder eigener Beschränktheit heraus verhindern wollten? Hatte Wissenschaft nicht ohnehin die Eigenschaft, sich zu verselbständigen und ihre Geheimnisse ohne Rücksicht auf die Folgen offen zu legen? Wer war er, dies verhindern zu wollen? Er selbst jedenfalls würde wissen wollen, wie lange ihm noch bliebe, wenn er unheilbar erkrankt wäre.

Warum will ich dann von meinem Tod nichts wissen, solange ich meine, gesund zu sein? fragte er sich.

War er nicht stark genug für dieses endgültige Wissen? Bei dem Gedanken, nur noch eine kurze Lebensdauer zur Verfügung zu haben, stritten die Gefühle in ihm. Eine zarte, schmerzliche Melancholie berührte ihn, zugleich schmeckte er bittere, verzweifelte Wut gegen das Unabwendbare, sah sich resigniert in Depression versinken und harrte für Momente am Rande abgrundtiefer Traurigkeit. In diese Empfindungen mischten sich Vorstellungen einer fremdartig gesteigerten Lebensintensität und rückhaltloser Freiheit. Er gab sein Geld mit offenen Händen aus, verschenkte sein Hab und Gut, vermachte sein Haus einem SOS-Kinderdorf. Er flog mit dem Helikopter auf den Himalaja, verschmolz auf endlosen Spaziergängen mit der Natur, betrank sich, sang hemmungslos. An seinem Todestag setzte er sich auf eine Klippe am Rand eines Meeres und atmete mit den Wellen. Merkwürdig, sinnierte er. Nichts davon ist wirklich spektakulär.

War es eigentlich möglich, das Leben nachzuholen? Gab es überhaupt etwas Spektakuläres angesichts des Todes? Oder ging es gerade in den letzten Momenten darum, sich dem Wesentlichen zuzuwenden? Was war das Wesentliche?

Hatte er die Uhr des Todes entdeckt, oder handelte es sich um eine Uhr des Lebens?

Plötzlich hielt er in seinen Gedanken einen Ausdruck in der Hand, auf dem Annes Todeszeitpunkt stand. An dieser Stelle riss ihn jäher Schmerz aus seinen Fantasien.

Countdown - die LebensuhrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt