Sie wollte sterben.

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"Es war kein Selbstmord; aber sie wollte sterben."

Sie lief durch die Stadt, brauchte nichts, wollte nirgends hin. Sie war mit niemandem verabredet, ihre Freunde trafen sich allein irgendwo - so wie immer. Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen setzte sie einen Fuß vor den anderen, unbewusst, in welche Richtung sie eigentlich ging. Aber es war auch egal, ihr war alles egal. Ihr Leben war anders, als sie es sich in ihren Klein-Mädchen Träumen früher vorstellte. Manchmal wünschte sie, sie könnte einfach nochmal zurück, einfach wieder klein sein. Klein und unwissend, naiv. Sie verlangte verzweifelt danach die Welt, und auch die Menschen in ihr, nochmals mit den Augen eines Kindes zu sehen. Sie wollte unvereingenommen sein, ehrlich glücklich und ihretwegen auch bei jeder noch so winzigen Schürfwunde in Tränen ausbrechen. Sie würde alles tun, um von vorne anfangen zu können. Um nochmal laufen zu lernen.

Die Ampel schaltete auf grün. Das Mädchen seufzte leise in sich hinein, es schien ihr schwer, sich zu bewegen. Jede Art von Anstrengung trieb sie an ihre Grenzen, an ihre geistigen, auch, wenn das unlogisch ist. Sie konnte es sich selbst nicht erklären. 

Sie setzte sich schließlich doch noch in Bewegung. Langsam und gequält zwang sie ihre Füße vorwärts. Kaum war sie auf der Mitte der Straße, hörte sie ein ohrenbetäubendes Hupen. Ein Krankenwagen raste im Höllentempo auf sie zu. Sie erstarrte, alles geschah wie in Zeitlupe. Der Wagen wurde langsamer, hysterische Schreie drangen in ihr Gehirn. Sie spürte unheimlichen Druck in ihrem Kopf, ihren Ohren. Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Sie bewegten sich keinen Zentimeter. Ihr Körper gehörte ihr nicht länger, sie nahm so wenig und gleichzeitig alles übersensibel wahr. Und das Auto fuhr immernoch direkt auf sie zu. Ihre Sicht verschwamm immer mehr, sie sah nur noch einzelne Schatten, bis sie dann gänzlich in Schwärze getaucht war. Panik machte sich in ihr breit, sie versuchte zu schreien, doch ihre Lippen ließen keinen Ton zu. Sie wollte laufen, doch ihre Beine waren wie unverrückbarer Stahl auf dem Boden befestigt. Alles was sie noch konnte, war hören. Sie hörte  Frauen kreischen, hörte die Hupen des Krankenwagens, hörte quietschende Bremsen, Fußgetrampel. Doch plötzlich war da gar nichts mehr, nur noch ein stechender Schmerz, der sich von ihrem Bauch, über ihren gesamten Körper ausbreitete. 

Das Ganze passierte in weniger als fünf Sekunden, aber für sie hätten es genauso gut fünfhundert sein können. All die Dinge, die auf einmal geschahen, verarbeitete ihr Gehirn in Zeitlupe und spielte ihr so etwas vor. Nicht, dass sie sich sonst hätte retten können...

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Der Unfall war bereits zwei ganze Tage her. Die Zeitungen berichteten ausschweifend, das örtliche Fernsehen ebenfalls. Im Internet stand im Minutentakt etwas Neues über das Unglück, von scheinbaren Entwarnungen bis hin zu dem Tod des Mädchens. Große Schlagzeilen, wie: "Krankenwagen bringt Jugendliche ins Krankenhaus", "Krankenwagen=Todesgefährt" oder "Überfahren von der Medizin" las man überall. Es war schrecklich, ganz Deutschland hielt den Atem an und wartete auf die erlösende Nachricht, die einfach nicht kommen wollte. 

Es verging noch mehr Zeit, immer mehr, bis aus den Tagen Wochen wurden und kurz davor waren, einen ganzen Monat zu füllen. Die Eltern des Mädchens litten, aber es waren nicht nur die psychischen Schmerzen, die sie spürten. Es übergriff ihren gesamten Körper, ließ sie leibliche Qualen fühlen, schlimmer, als dass sie es in Worte fassen könnten. Sie starben innerlich, dem Zustand ihrer Tochter so ähnlich, dass es fast erschreckend war.

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Sie war wie betäubt. Die Welt um sie herum existierte nicht länger, ihr eigener Leib schien ihr so körperlos. Er gehörte jemand anderem. Sie war alleine im Dunkel, nur ihre Gedanken umwoben sie sacht und beschützten sie vor den grausamen Klauen des lauernden Monsters. Was das für ein Monster war, vermochte sie sich selbst nicht zu erklären. Sie wusste nur, dass es da war, dass es wartete. Es wartete auf einen Fehler, eine Lücke in ihrer  kompakten Mauer aus Gedanken, Erinnerungen und Bildern, die sich immer wieder in ihrem Kopf abspielten. Sie waren das Einzige, an dem sie sich noch festhalten konnte. Das Einzige, was sie vor der ungewissen Dunkelheit bewahrte und ihr ein Gefühl der Geborgenheit gab. Es mag komisch klingen, vielleicht sogar unverständlich sein, doch genauso war es - unerklärlich, und deshalb unverständlich. 

Sie wollte sterben. (One Shot)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt