Echo

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Der kühle Wind wehte durch die Straßen Wiens, ließ die Tulpen am Wegrand mit den Köpfen nicken und strich sanft durch meine Haare. Ich atmete die sommerliche Luft ein und richtete meine Tasche, die mir beim Gehen von der Schulter gerutscht war. Ich war auf dem Weg zur Universität Wien, wo ich Anglistik und Geschichte studierte. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass der Unterricht in 15 Minuten beginnen würde. Wenn ich weiter so herumtrödelte, würde ich zu spät kommen! Schnell beschleunigte ich meine Schritte und bog an der nächsten Ecke nach rechts ab.

Da vibrierte es in der Tasche meiner fliederfarbenen Jacke. Ich griff hinein, fischte mein Handy heraus und sah auf das Display.

"Hallo, Bruderherz. Was gibt's?"

Mein um zwei Jahre jüngerer Bruder Jacob studierte ebenfalls an der Uni, die ich besuchte. Sein Unterricht begann heute etwas später, weshalb ich schon früher aufgebrochen war.

"Hi Mary. Ich hab den Zug verpasst! Jetzt komme ich viel zu spät in den Hörsaal!", jammerte er.

Wir wohnten beide einige Kilometer von Wien entfernt, was hieß, dass wir mit dem Zug fahren mussten. Ich überlegte kurz. Die Züge fuhren diese Woche wegen einer Umleitung alle 30 Minuten.

"Warte einfach auf den nächsten! Ich bin in 2 Minuten dort. Dann geh ich zu Prof. Weidenberg und entschuldige dich. Okay?"

"Okay." Dann legte er auf. In letzter Zeit erschien er mir ziemlich gehetzt. Wahrscheinlich waren es die Prüfungen, die bald anstanden, redete ich mir ein.

Da ragte auch schon das große Tor der Uni vor mir auf und ich ging hinein. Auf dem Weg zum Hörsaal kam mir eine junge Frau entgegen. Sie hatte weißblonde glatte Haare, die sie mit einem strengen Dutt gebändigt hatte. Ich sah an ihr herunter: hellrote Bluse, dunkelblaue Jeans. Ein klumpiger schwarzer Handkoffer. Ihre hellblauen Augen warfen mir einen eisigen Blick zu, und ich wäre fast mit ihr zusammengestoßen. "Pass doch auf!", zischte sie und ging hastig weiter. Ich schüttelte verwundert den Kopf, denn irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl im Bauch.

Als ich die Tür zum Hörsaal öffnete, richteten sich ein Dutzend Augenpaare auf mich. Obwohl der Unterricht erst in 10 Minuten begann, waren schon die meisten Studenten da. Auch Professor Weidenberg saß bereits hinter dem Pult. Ich musterte kurz den Raum. Es gab hohe Fenster, deren Vorhänge allerdings zugezogen waren, was alles in ein schummriges Dämmerlicht tauchte. Die meisten Studenten saßen auf der rechten Seite, während die linke Seite fast leer war. Jacob hatte mir erzählt, dass auf dem letzten Platz der linken oberen Reihe nie jemand saß. Warum, wollte niemand sagen.

Ich trat zum Pult und räusperte mich. Langsam sah Weidenberg von seinem Buch auf. Sein ergrautes Haar fiel ihm in die Stirn, als er mich durch seine dunkelrote Brille hindurch musterte. Er war einer der älteren Professoren an der Universität, was man ihm bei jedem Schritt ansah. Trotzdem wurde er immer wieder seinem Ruf gerecht, der strengste Lehrer der ganzen Uni zu sein.

Offenbar war er gerade bei einer spannenden Stelle gewesen, denn er begrüßte mich mit einem barschen "Was ist denn?!", wobei er mit den Fingern auf das Pult trommelte.

Ich ließ mich nicht einschüchtern.

"Ich bin Mary Fink, die Schwester von Ihrem Schüler Jacob Fink. Ich wollte ihn bei Ihnen entschuldigen, denn er hat seinen Bus verpasst und kommt eine halbe Stunde später." Weidenberg kniff kurz die Augen zusammen, dann nickte er. "Gut", brummte er und senkte den Blick wieder auf seinen Roman. "Sie können wieder gehen."

Ich biss mir auf die Lippe und beeilte mich, aus dem Hörsaal zu kommen.

Zehn Sekunden später stolperte ich im Gang neben dem Hörsaal über eine lose Bodenfliese. Fluchend landete ich auf dem harten Boden und meine Tasche ging auf, sodass sich meine ganzen Zettel und Stifte im Gang verteilten. Mir schwirrte der Kopf und meine Schläfe pochte. Ich biss die Zähne zusammen und setzte mich auf. In meinem Ohr piepste es.

Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf einen weißen Fleck an der Wand. Langsam hörte der Gang auf zu schwanken und ich sah wieder klar. Doch das Piepsen war immer noch zu hören. Ich machte einen Druckausgleich bei meinen Ohren, doch es half nichts. Obwohl das piepsen ziemlich leise war, machte es mich ungewöhnlich nervös.

Ich stand auf und machte mich daran, meine Sachen wieder in der Tasche zu verstauen. Das Piepsen war nun noch leiser geworden. Ich zuckte mit den Schultern und ging wieder zurück.

Sobald ich wieder an der Stelle war, wo ich hingefallen war, blieb ich abrupt stehen. Das Piepsen war hier wieder lauter.

Ich schluckte und redete mir ein, dass ich mir das nur einbildete. Dann ging ich ein paar Schritte vor. Das Piepsen wurde leiser. Ein paar Schritte zurück, und das Piepsen war wieder lauter.

Vorsichtig ging ich in die Hocke und legte mein linkes Ohr an die kalte Wand. Viel deutlicher war das Piepsen jetzt zu hören. Mir lief es kalt über den Rücken. In dieser Wand war etwas.

Als wäre das nicht schon genug, schätzte ich den Abstand zur Tür und stellte mir dann den Hörsaal wieder vor. Ich befand mich genau neben dem letzten Platz der linken oberen Reihe, dort, wo niemals jemand saß. Zwischen mir und dem Platz befand sich nur diese Mauer. Und diese Mauer piepste.

Ich begann, schneller zu atmen. Seit wann piepsen Wände? Hastig rappelte ich mich auf und schritt in eiligem Tempo von der Wand weg. Ich wusste nicht, ob ich gerade richtig abgebogen war, aber das war mir egal, solange ich nur möglichst weit weg von dieser Wand war. Und von dem Hörsaal. Und von dem Piepsen.

Die Universität war in einer rechteckigen Form gebaut, mit einem hübschen Innenhof. In einem altmodischen Stil erbaut; an den meisten Stellen renoviert. Mit vielen Verzierungen und teilweise oben runden Fenstern. Vor dem Tor stand eine kleine Säule mit einem vergoldeten Engel. In den Gängen fand man hübsche Kronleuchter und Deckenmalereien. Kitschig für manche, doch ich mochte den Barock.

Das alles blendete ich an diesem Morgen aus, als ich schnellen Schrittes vom Hörsaal "flüchtete". Ich sah auf meine Armbanduhr und es erschien mir als unwichtig, dass mein Unterricht eigentlich schon seit fünf Minuten begonnen hatte. Ich wollte einfach nur hier raus. Die Luft war trocken und ließ mich ein Husten unterdrücken. Das Universitätsgebäude schien jetzt plötzlich nicht mehr schützend, sondern gefängnisartig zu sein. Ich blieb schwer atmend stehen und lehnte mich hustend ans Geländer des zur Seite offenen Ganges. Ich befand mich ziemlich genau auf der anderen Seite der Schule. Zwischen mir und dem Hörsaal lag der Hof mit seinen vereinzelten Bäumen und ein paar Bänken.

Ich schloss kurz die Augen, um mich wieder zu beruhigen. Das Piepsen hatte ich mir sicher nur eingebildet. Ich atmete ruhig ein, und aus. Ein, aus.

Es kam mir nun schon fast lächerlich vor. Eine piepsende Wand! Fast hätte ich laut aufgelacht. Beruhigt schlug ich die Augen auf. Und da explodierte der Hörsaal.

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