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Sie floh

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Sie floh.

Sie wusste, es war die einzig richtige Entscheidung. Das hatte sie schon immer gewusst. Man floh vor dem verrückten Psychopathen, man floh vor dem kaltherzigen Dämonen, man floh vor seinem Entführer, das stand in jeden verfluchten Kinderbuch.
Was sie allerdings nicht zuvor gewusst hatte, war die Tatsache, dass es ihr schwer fiel, ihn zu verlassen. Vielleicht aus purer Angst davor, was passieren würde, wenn er sie wieder fand, vielleicht aus purer Angst davor, dem Rudel wieder unter die Augen zu treten nach all der langen Zeit, ihr Leben normal weiterzuleben, nachdem, was passiert war. Wie würden ihre Eltern wohl reagieren? Hatten sie die Hoffnung sie wiederzusehen bereits aufgegeben?
Vielleicht gab es aber auch einen winzigen Teil in ihr, der ihn nicht verlassen wollte. Einen Teil, den sie stur verleugnete.

Die Wahrheit, die sie sich nicht eingestehen wollte, war, dass sie Tag über Tag, Woche über Woche den Grossteil ihrer Zeit mit ihm verbracht hatte. Und so sehr sie auch versuchte, sich dagegen zu wehren, zwischen ihr und dem Nogitsune hatte sich etwas gebildet, dass man wohl am besten als ein unsichtbares Band bezeichnen konnte. Ein Band, welches sie beide eng umschlang, es fast unmöglich für einen der beiden machte, die andere Person für eine längere Zeit zu verlassen. Es war nicht Sympathie, Freundschaft oder Gott bewahre Liebe... es war lediglich eine Verbindung, die Freya wohl mit absolut jedem aufgebaut hätte, wäre sie mit ihm für eine so lange Zeit in einem einzigen Raum eingesperrt gewesen. Scheisse, du lernst selbst Lord Voldemort zu lieben, wenn er dein einzig menschlicher Kontakt war.

Tag um Tag verbrachten sie ihre Zeit damit zuzulassen, wie er sie näher an die Kontrolle ihrer eigenen Macht brachte. Er liess sie in seinen Kopf, er liess sie darin stöbern, zeigte ihr darin Dinge, wenn auch keine dieser Dinge irgendetwas mit seinen Plänen zu tun hatten. Freya hatte sich damit abgefunden, nicht in seine Pläne eingeweiht zu werden, im Dunkeln gelassen zu werden. Sie wusste nicht, was er tun würde, wenn er ihr Zimmer verliess und wusste nicht, was er getan hatte, wenn er wiederkam. Vielleicht war das Rudel bereits tot... wer wusste das schon. Sie fragte nicht mehr nach.

Aber er zeigte ihr anderes.
Erinnerungen, Träume und Visionen, welche er von der Zukunft hatte. Er begleitete sie in die Köpfe anderer, er war immer bei ihr, gab ihr die gewisse Sicherheit, welche sie benötigte. Im Gegenzug verlangte er ihre Vergangenheit, ihre Gedanken und genauso ihre Träume.

Nach diesen Wochen war sie sich sicher, dass er sie besser kannte, als es irgendjemand sonst es tat, vielleicht sogar besser, als sie sich selbst kannte. Manchmal kam er spät Nachts in ihr Zimmer, weckte sie auf und wollte, dass sie ihn in ihre Träume liess und wenn sie nichts träumte oder geträumt hatte, wollte er eine ihrer unzähligen Erinnerungen sehen.Verschiedenste Erinnerungen. Die von einem Familienausflug, von einem langweiligen Tag in der Schule, einer aus ihrer Kindheit. Absolut alles mögliche. Als wäre ihr Leben eine Show, die er sich ansehen konnte.

Wieso wusste sie nicht. Was sie wusste, war, dass er sie in und auswendig kannte und sie kannte das von ihm, was er ihr erlaubte zu sehen. Und dass genau das sie dazu brachte, dass er ihr etwas bedeutete, wenn sie auch nicht wusste, was genau er ihr bedeutete. Und was sie auch wusste, war, dass er mit ihr zu fühlen schien. Zeigte sie ihm eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, in der sie nonstop gehänselt wurde, schien er danach wütend zu sein, stürmte geradezu hasserfüllt aus dem Raum, zeigte sie ihm eine glückliche Erinnerung, lächelte er beruhigt, zeigte er ihm eine traurige Erinnerung, wie zum Beispiel der Tod ihrer Grossmutter, drückte er sie an sich und versuchte sie zu beruhigen, bevor er sie dazu zwang noch einige Stunden zu schlafen.

Freya konnte in den Kopf jedes einzelnen Menschen sehen, sie hatte gelernt, Körpersprache zu deuten, absolut alles zu deuten und Menschen richtig einzuschätzen und dennoch... sie war nicht fähig zu verstehen, was für eine Bedeutung sie für ihn hatte.

All die Erinnerung, die sie ihm auf seinen Wunsch gezeigt hatte, die Träume, ihre Gefühle... sie verstand nicht, dass kein Wesen, noch nicht einmal ein Nogitsune, ein Wesen unfähig viel mehr zu empfinden als Hass, all dieser Menschlichkeit in ihren Erinnerungen widerstehen konnte. Die Menschlichkeit ihrer Gefühlsebene und ihrer Vergangenheit beeinflusste ihn und färbte auf ihn ab. Wenn auch so wenig, dass es fast unbemerkt für den Rest der Welt blieb. Auch für Freya. Er selbst hingegen bemerkte es und es jagte ihm eine Höllenangst ein. Genauso sehr konnte er es allerdings nicht verhindern und wollte er es auch nicht verhindern.

Menschlichkeit war eine Schwäche und doch machte die Menschlichkeit, die sie ihm schenkte, es für ihn möglich, Dinge zu fühlen, die er zuvor nicht gefühlt hatte und diese Vielfalt an Gefühlen zogen ihn in einen Bann, machten ihn danach süchtig, mehr davon zu bekommen. Mehr von ihrer Menschlichkeit, damit er die Schmerzen anderer, den Hass anderer, seinen eigenen Hass, genauso allerdings auch ein ihm unbekanntes Gefühl, welches er für Freya entwickelt hatte, intensiver wahrnehmen konnte. Ihre Erinnerungen brachen Risse in die steinerne Kruste, die seine Emotionen gefangen hielt.

Es versetzte ihn in einen Rausch. Gerade das letzte Gefühl.
Wenn er in der Nacht in ihr Zimmer kam, sie dort schlafend vorfand, ein Kissen an sich drückend, ihr Gesicht darin vergraben, als würde sie im Schlaf Schutz bei diesem Kissen suchen. Manchmal wagte er es nicht, sich neben sie zu setzen, weil er sie nicht aufwecken wollte, manchmal wollte er sich nicht neben sie setzen, weil er das Gefühl, dass in ihm aufkam, jedes Mal, wenn er in ihrer Nähe war, genauso sehr genoss, wie er es auch fürchtete. Also verliess er das Zimmer und versuchte eine Lösung und eine Erklärung für dieses Gefühl zu finden. Jede Nacht scheiterte er daran und brach in einen Wutausfall aus.

Aber Freya wusste nichts davon. Die Momente, in denen er sie behandelte, als würde ihm etwas an ihr liegen, hielt sie für geschauspielert. Für einen Part in seinem Spiel, welches er mit ihr spielte. Und sie wusste, dass sie aus diesem Spiel ausbrechen musste, wenn sie sich retten wollte, nicht am Ende tot oder gebrochen enden wollte.

Deshalb rannte sie, was um einiges leichter war, als sie vermutet hatte. Grösstenteils deswegen, weil der Nogitsune über die Zeit hinweg weniger vorsichtig geworden war.

Es war leicht gewesen, aus dem Raum zu gelangen, eine etwas schwierigere Herausforderung war das gewesen, was nach dem Raum kam. Tunnel über Tunnel, in denen sie umherirrte. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem sie sich zitternd an den dreckigen Wänden entlang tastete und sich fragte, ob die verfluchte Dunkelheit überhaupt irgendwann ein Ende hatte. Sie bezweifelte es. Aber es war nicht bloss die Dunkelheit. Es waren die winzigen Geräusche, die nicht von ihr stammten, vielleicht von Mäusen oder Ratten und das ungute Gefühl, dass ihr eine Gänsehaut über den Körper trieb. Es war, als ob dieses Gebäude, was auch immer es war, es darauf anlegte, sie ihren Verstand verlieren zu lassen, sie zu brechen.

Doch Freya war stärker geworden, der Nogitsune hatte sie stärker gemacht, nicht bloss, was ihre Kräfte anging, nein, genauso, was ihre Psyche betraf. Sie würde nicht einknicken. Und so begann sie zu rennen. Jedes Mal, wenn sie einen Gang wählen musste, nahm sie den Linken und irgendwann erschien tatsächlich ein Licht. Das Licht entwickelte sich zu einer Gittertür, die zwar verschlossen war, doch eine verschlossene Tür konnte sie nicht an der Flucht hindern. Der Nogitsune hatte dafür gesorgt, dass sie begann, ihre Mächte kennenzulernen, wenn auch bloss einen Bruchteil davon. Mit einem einfachen Wink ihrer Hand und ihrem konzentrierten Verstand, zerbrach das Schloss vor ihr und die Tür fiel auf.

Mit einer letzten Überlegung, machte sie den entscheidenden Schritt nach draussen.

Sacrifice (Void Stiles)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt