Kapitel 1

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▪□▪□▪ Isuya's PoV ▪□▪□▪

Gemütlich spazierte ich die nächtlichen Straßen der Stadt entlang. Anders, als alle Menschen um mich herum, hatte ich kein Leben in Stress und Hektik. Eigentlich hatte ich seit Jahrhunderten kein Leben mehr. Ich wich den Leuten, die mir entgegen kamen, aus um zu dem Supermarkt zu gelangen. Ein Kunde darin sah leicht verwirrt zu der automatischen Tür, denn in seinen Augen kam niemand durch die Glastür, aber er setzte gleich darauf seinen Alltag fort. Ich begab mich gleich zu einer Samenauslage in der Nähe der Kasse. Meinen Blick ließ ich über die verschiedensten Blumenmotive schweifen, bis ich mich für Chrysanthemen entschied. Heute war nämlich ein sehr besonderer Anlass für mich.

Dieses Mal mit etwas schnelleren Schritten flanierte ich in einen öffentlichen Park. Unter einem Kirschblütenbaum und neben einem kleinen Shogi-Tisch stand ein Geist, wie ich einer war. Seine Konturen und sein Licht waren aber Silber und nicht rot-orange wie meines. Auch die Kleidung, in welcher er erschien, war moderner als die meine. Sobald er mich sah, winkte er mir zu.

"Da bist du ja Isuya. Ich hab schon auf dich gewartet.", begrüßte er mich lächelnd.

"Ich hoffe doch nicht zu lange, Yotaro.", erwiderte ich darauf und verneigte mich leicht zur Begrüßung. Yotaro hatte bereits versucht es mir abzugewöhnen, jedoch hatte ich ihm erleutert, dass ich meinen Lehren treu bleibe.

"Nein, keine Sorge. Ich hab ein Buch gelesen, bis du gekommen bist. Du müsstest bereits davon gehört haben. Gorin no Sho von Miyamoto Musashi."

"Ich kenne nicht nur das Buch, sondern auch ihn, aber unsere Wege kreuzten sich bloß ein einziges Mal.", erzählte ich und sah in Erinnerungen schweifend in den Himmel.

"Wie war er so als Mensch?", fragte Yotaro gleich sehr interessiert, wodurch er mich zum schmunzeln brachte.

"Er war äußerst diszipliniert und auch sehr geschickt. Wir haben nicht viel miteinander gesprochen. Ich bin damals gerade noch so mit dem Leben davongekommen. Wovon glaubst du habe ich sonst die Narbe hier?", meinte ich nur und schob mein Gewand über eine Schulter, sodass man eine Narbenabzeichnung aus Licht bei der Schulter sehen konnte.

Wir lachten beide kurz etwas, bevor ich wieder mit meine Gedanken aussprach.

"Hätte er aber mich wirklich damals getötet, wäre ich wahrscheinlich nicht hier, sondern erlöst..."

"Sag nicht, du denkst, dass du keinen Frieden hast, weil du "unaufmerksam warst.", seufzte Yotaro, worauf ich leicht nickte.

"Aber das ist nicht von Bedeutung, denn heute ist dein Tag. Das zweite Jahr als Friedensstreber muss geehrt werden.", lenkte ich seine Aufmerksamkeit von diesem Thema ab und öffnete die Samenpackung.

Yotaro lächelte wieder leicht und nahm eine Schaufel, womit er ein Loch neben der Stelle grub, wo wir vor genau einem Jahr Azaleen gesetzt hatten. Es hatte sich bereits zu einer kleinen Tradition entwickelt. Ich reichte ihm die Packung, deren Inhalt er in das Loch kippte. Sobald er dies vollbracht hatte, schob ich die Erde wieder auf ihren Platz. Mit einer Wasserflasche gossen wir die Stelle noch.

"Ich freue mich schon, wenn sie blühen. Wenn meine Familie hier dann wieder vorbei geht, freuen sie sich bestimmt.", meinte Yotaro sehnsüchtig seufzend.

"Wie kommen sie eigentlich zur Zeit zurecht?", erkundigte ich mich.

"Meine Frau denkt immer noch jeden Tag an mich, hat allerdings inzwischen jemand Neues kennen gelernt. Ich bin froh, dass sie sich wieder geöffnet hat, aber mein Sohn scheint den neuen Kerl nicht wirklich anzuerkennen und zieht sich sehr zurück. Und meine kleine Tochter ist auch noch nicht wirklich über mich hinweg.", antwortete mein Freund darauf.

Dann setzten wir uns an den Shogi-Tisch und spielten eine Partie. Nach ebendieser gab ich mich wieder dem Alltag hin und er ging zu seiner Familie. Er beobachtete sie jeden Tag. Für mich gab es aber schon lange niemanden mehr, den ich beobachten könnte. Ich schlenderte ziellos durch die hell erleuchteten Straßen, als ich etwas hörte. Es war das Klicken einer dieser schrecklichen Schusswaffen. Wieso hatte jeder eines dieser Dinger?

Ich blickte in die Nebengasse. Ein Mann mittleren Alters drückte eine Studentin gegen die Wand. Die Pistole hielt er ihr an die Seite und hielt ihren Mund zu.

"Wenn du schreist bereust du es.", warnte der Mann und wollte gerade ihren Gürtel öffnen, wobei sie sich wandte und wehrte.

Die junge Frau sah sich panisch um und ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie hatte kaum Kraft um sich sicher auf den Beinen zu halten. Ich ging in die Gasse und stellte mich direkt neben sie. Dort beugte ich mich zu ihrem Ohr.

"Trete ihm ein Bein weg. Er wird hinfallen.", flüsterte ich ihr zu, worauf sie leicht zusammen zuckte, aber überlegend zu seinen Füßen sah.

Ich ging hinter dem Mistkerl auf ein Knie runter und zückte mein Wakizashi. Ich wartete bis sie ihn trat, dann half ich ihr nach, indem ich den Griff meiner Waffe fest gegen sein Bein oberhalb ihres Fußes schlug. Er schrie auf und ließ die Waffe fallen.

"Lauf! Schnell!", rief ich der jungen Frau zu, wobei meine Stimme nur als normales Reden aus dieser Entfernung in ihrem Kopf hört.

Sie hörte auf mich und rannte, jedoch verlor sie dabei etwas. Ich hob die Waffe hoch, auf dass der Kerl nicht noch jemandem etwas antun kann und die Brieftasche der Studentin. Zu groß war die Neugier, als dass ich sie zurück bringe ohne einen Blick hinein zu werfen. Es war etwas Geld drinnen und ein Ausweis. Naomi Akiyota war ihr Name. Ich lief in die Richtung in, die sie gelaufen war. Ich fand sie nach einer Zeit, nachdem sie in eine andere Gasse einbog und in ihrer Tasche schätzungsweise nach Schlüssel kramte, als sie bemerkte, dass ihre Brieftasche nicht mehr darin war. Ich legte ebendiese vor ihre Füße, wo sie sie erleichtert aufhob. Dann sperrte sie ihre Wohnung auf.

Kurz zögerte ich noch, bevor ich mich an ihr vorbei schlich in ihre Wohnung. Ich sah mich aber nirgends um. Ich folgte Naomi in ihr Zimmer, wo sie sich erschöpft aufs Bett fallen ließ. Ich nahm Platz auf ihrem Schreibtischsessel und beobachtete sie während sie schlief. Ihre schwarzen Haare hatte sie am Haaransatz blau gefärbt und ihr zartes Gesicht war noch etwas blass vom Schock. Ich sah mich in ihrem Zimmer um. Es hingen Photographien an einer Wand, die sie mit Freunden oder Familie zeigte. Was auch sehr interessant für mich war, waren die verschiedenen Geräte neben ihrem Computer, oder wie man das nannte. Eine Gitarre war auf einem dazugehörigen Ständer neben dem Schreibtisch. Machte sie also ihre eigene Musik? Ich setzte ihre Kopfhörer auf und lauschte ein paar ihrer Dateien auf ihrem Gerät. Sie hatte wirklich Talent. Der Text war besonders interessant und manche Aussagen regten zum Nachdenken an. Auch die Musik dazu war passend. Aber die Lyrics dazu... sie sagten mehr, als sie wahrscheinlich sonst jemandem gesagt hätte. Sie musste schon viel erlebt haben. Vielleicht sollte ich ihr noch eine Zeit beiseite stehen... Außerdem war sie so bezaubernd, als dass ich ihr nicht weiterhin helfen könnte.

Shishu - Toter WächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt