Kapitel 13

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Früher hatten Julius und ich ein geheimes Klopf-Signal, dass wir wussten, dass wir es sind und nicht unsere Eltern. Nicht, dass Papa jemals an Türen klopfen würde - das hat er nicht nötig. Julius hat damals behauptet, dass es sich eben diese Reihenfolge extra für uns ausgedacht hat und ich war stolz, so einen schlauen Bruder zu haben. Wenn ich es mir recht überlege, war ich sowieso immer wegen so ziemlich allem stolz auf ihn, auch wenn ich das fast nie zurückbekommen habe. Heute weiß ich, dass unser Signal nichts weiter als SOS ist. Und benutzt haben wir es sowieso schon lange nicht mehr. Aber Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regeln. Oder so. Mir auch egal, denn eigentlich suche ich nur eine Erklärung dafür, dass ich heute dieses Ritual anwende. Auch wenn es eine reine Farce ist, das weiß ich selbst, denn natürlich ist sich mein Bruder zu fein, um zu antworten. Nichtsdestotrotz trete ich ein.
„Julius?", rufe ich fragend in den Raum. Mein Bruder sitzt vor seinem PC und fährt irgendein Autorennen. Störe ich? Vermutlich. Aber Julius fährt sowohl mit als auch ohne Ablenkung grottenschlecht, von daher dürfte ich da auch keinen Unterschied mehr machen.
„Keine Zeit", brummt er, ohne vom Monitor aufzuschauen.
„Okay", sage ich, mache aber keine Anstalten mich wieder in mein eigenes Zimmer zu verziehen. Stattdessen setze ich mich auf Julius' Bett, wie noch kurz zuvor auf Elenas. Nur das Julius' Bett im Gegensatz zu dem von Elena perfekt gemacht ist. War. Bis ich mich darauf gesetzt habe. Genervt dreht Julius sich in seinem Stuhl zu mir um. Schon jetzt sieht er aus wie der Chef einer Bank oder ein erfolgreicher Manager. Nur dass er keinen Anzug trägt. Aber lange wird das bestimmt nicht mehr dauern. Wenn er nächstes Jahr studiert, dann sitzt er wahrscheinlich auch mit Hemd und Krawatte vor dem Fernseher.
„Gibt es einen Grund, weshalb du hier bist?"
„Ich möchte mit dir reden", erkläre ich und zwinge mich, zu lächeln. Vermutlich schaue ich so, als säße ich vor Gericht. Wobei - tue ich wahrscheinlich auch.
„Okay", antwortet er platt und hat wohl tatsächlich vor, zuzuhören. Vor lauter Überraschung bringe ich kein Wort heraus. Damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.
„Ich habe eine Freundin", sage ich schließlich, weil mir nichts anderes einfällt. Höchstwahrscheinlich war es nicht unbedingt die schlaueste Idee. Warum verdammt nochmal lege ich mir eigentlich davor keine Pläne zurecht? Julius an meiner Stelle hätte davor ein Gesprächsprotokoll erstellst.
„Ach, hat Kolja zur Zeit eine?"
„Wann hat Kolja keine Freundin?", entgegne ich und lasse mir die Kränkung nicht anmerken.
„Wolltest du mir das erzählen?"
„Nein."
„Sondern?"
„Julius, ich kann verstehen, dass du sauer bist", beginne ich. „Genau genommen hast du jedes Recht dazu. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass du... dass wir... dass ich eines Tages wieder deine Schwester sein kann." Er schweigt. Ich halte den Atem an, wie um seine Gedanken nicht zu stören.
„Kira, du hast mir die Freundin weggenommen", presst er hervor. „Nicht einfach nur mein Lieblings-Legoset!" Ich will gerade zu einer Verteidigungsrede absetzen, dass seine Freundin ihn ja wohl genauso betrogen hat wie ich - schließlich habe ich sie nicht dazu gezwungen mit mir auszugehen! Zum Glück merke ich noch früh genug, dass dies vermutlich nicht ganz so der Streitschlichtung dienen würde.
„Ich weiß, verdammt, aber ist das ein Grund, mich ein Leben lang zu hassen?", frage ich stattdessen.
„Du übertreibst", meint Julius gelassen. Wie kann er so ruhig bleiben?
„Tue ich nicht!", widerspreche ich und merke selbst, wie zickig ich klinge. In diesem Moment wäre ich die perfekte Besetzung für Germany's Next Topmodel.
„Ich habe ein Recht darauf, sauer zu sein!"
„Ich habe nie etwas Gegenteiliges behauptet! Nur solltest du dann und wann auch mal verzeihen! Ich bin deine Schwester!" Ich bin mit der Intention gekommen, einen Streit aus der Welt zu schaffen, doch momentan sieht es eher danach aus, als würde das ganze zum endgültigen Bruch mit meinem Bruder führen. Applaus, Kira, wirklich sehr toll hinbekommen. Das Schlimme ist, dass ich mich nichtmal beschweren kann, denn schließlich habe ich mir den ganzen Mist selbst eingebrockt.
„Richtig. Meine Schwester. Spannen sich Geschwister gegenseitig die Partner aus?" Offensichtlich ja.
„Nein", gebe ich resigniert zu. Ich habe keine Kraft mehr, mit meinem Bruder zu streiten, wo ich doch eigentlich ganz genau weiß, dass er im Recht ist.
„Warum bist du wirklich hier, Kira?", fragt er plötzlich mit sanfter Stimme.
„Um mich zu entschuldigen. Und weil ich hoffe, dass du mir verzeihst", piepse ich, den Kopf in meinen Armen vergraben. Ich muss aussehen wie ein kleines, weinerliches Kind. Vielleicht bringt ja meine verletzliche Seite Julius dazu, mir zu vergeben. Obwohl er eigentlich nie so gefühlsduselig war.
„Bist du im Begriff denselben Fehler nochmal zu machen?" Bin ich so vorhersehbar?
„Ja. Nur diesmal ist es anders." Ist es auch. Denn Emil ist nicht mit Elena zusammen. Ich kannte sie zuerst und er kennt sie kaum. Habe nicht dieses Mal das Vorrecht? Auf der anderen Seite - gibt es sowas in der Liebe überhaupt? Man kann eine Person nicht besitzen. Diese Problematik scheint tiefer zu gehen, als ich dachte, aber Elena und ich sind ein Paar! Da kann sich doch nicht einfach jemand zwischen uns stellen und schon gar nicht Emil!
„Ist es ähnlich?"
„Ja", murmele ich. Ist das ein entscheidender Unterschied? Dass es nur ähnlich ist und nicht gleich?
„Verletzt du jemanden damit?" Abgesehen davon, dass es mich verletzen würde, mich von Elena zu trennen?
„Vermutlich."
„Dann lass es."
„Aber ich kannte sie zuerst!", widerspreche ich barsch.
„Ich kannte Anja auch zuerst!", braust Julius sofort wieder auf.
„Ich habe mich deinetwegen von ihr getrennt!", schieße ich zurück.
„Du hättest nie etwas mit ihr anfangen sollen!" Da hat er wahrscheinlich sogar recht, aber kann er nicht wenigstens einmal sehen, wie sehr ich mich bemüht habe? Wie sehr ich mich noch immer bemühe? In solchen Momenten ist er meinem Vater ähnlicher denn je.
„Du konntest damals nicht verzichten, also verzichte jetzt! Für den armen Kerl, der denkt, du wärst seine Freundin!"
„Aber wozu?", wimmere ich. „Sie will doch nichts von Emil!"
„Aus Prinzip", erklärt Julius sachlich, als wäre das unbestreitbares Fachwissen, nachzulesen in Wikipedia. „Und weil Emil viel für dich getan hat." Und ich für ihn. Wir sind Freunde, gönnt man da nicht eher dem anderen sein Glück, als es ihm zu vereiteln?
„Was ist also dein Rat?", frage ich erschöpft, obwohl ich die Antwort schon kenne.
„Trenn dich von ihr." Ohne ein weiteres Wort laufe ich mit langsamen Schritten in mein eigenes Zimmer zurück, Julius' Worte noch immer im Ohr. Trenn dich von ihr. Könnte ich das überhaupt? Könnte ich es, wenn es nochmal um Julius ginge? Ich komme nicht an der Frage vorbei, ob Julius mir diesen Rat gegeben hat, weil er wirklich an ihn glaubt oder einfach nur, weil es ein Teil seiner ganz persönlichen Rache an mir ist. Vorstellen könnte ich mir bei meinem ach-so-korrekten Bruder beides. Warum habe ich ihm überhaupt davon erzählt? Wollte ich Mitleid? Da bin ich in meiner kompletten Familie falsch. Mit Ines kann ich nicht reden, davor müsste ich ihr erst eine ganze Menge erzählen und Elena alles erzählen? Wie grausam wäre ich, wenn ich mit ihr darüber sprechen würde, mich eventuell von ihr zu trennen? Ich schätze, ich bin in dieser Sache auf mich alleine gestellt. Und nur eines weiß ich mit Sicherheit: Selbst wenn ich die Beziehung mit Elena tatsächlich beenden würde, wäre das Verhältnis zu Julius vermutlich nicht mehr zu retten. Er wird mir niemals verzeihen, dazu ist er zu nachtragend und alles, was ich tun kann, ist, dass zu akzeptieren.

Zwischen Lyrik und ProsaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt