| 4. Kapitel |

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„Ich hoffe für sie alle, dass sie Ihre Berichte zumindest schon angefangen haben. Wer es noch nicht getan hat, der sollte wissen, dass seine Zukunft bei der Times nicht rosig aussehen wird." Die schlaksige Frau, die vorne neben dem Beamer stand, sah uns mit erhobenem Hauptes alle an. Ihr Blick glich der einer Raubkatze und ihre strenge Haltung ließ ihre lieblichen Konturen verschwinden. Sie selber musste kurz schlucken. Sie hatte noch keinen einzigen Satz für ihren Bericht geschrieben und ihr waren nur noch ein paar Wochen dafür übrig geblieben. Alle acht 'Auserwählten', wie sie es eher zu nennen vermag, mussten über ein von der Times vorgegebenes Thema schreiben und ihr überließ man das Thema „Ein Gefängnisinsasse". Eine Überschrift und alles andere musste sie sich selber dazu zusammensuchen und niederschreiben, doch bis jetzt, nach den letzten zwei Sitzen mit dem Insassen Ethan Beaufort, hatte sie noch nichts verfasst. Der junge Mann neben ihr hatte schon am Anfang des Treffens mit der Blondine, die vor ihnen saß über seinen schon vierseitigen Bericht diskutiert, den er immer und immer wieder noch überarbeiteten wollte. Sie fühlte sich immer und immer schrecklicher, wenn sie all die anderen hörte, wie sie von ihren Berichten redeten und sie konnte es kaum erwarten, hier endlich wieder hinaus kommen zu können.

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Schnellen Schrittes ging sie durch die widerlich nach eisen stinkende Tür durch und versuchte zugleich ihre rasende Atmung zu kontrollieren. Ihre kurze Sprinteinlage, die sie vom Bus bis zum Gefängnis hatte legen müssen, weil der Bus eine Verspätung hatte und sie es hasste immer zu Spät zu kommen, hatte sie zu schaffen gemacht. Ihr Herz raste unaufhörlich gegen ihre Brust, ihre Hände wurden wieder schwitzig und sie konnte sich nur schmerzlich vorstellen, wie ihre Haare einem Vogelnest nun wahrscheinlich ähnelten. Im lächerlichen Versuch sich die Haare glatt zu streichen, setzte sie sich Mr. Beaufort entgegen, packte schnell ihren schwarzen Kugelschreiber und ein kleines Notizheftchen aus, atmete einmal kurz tief durch und versuchte ihm mit einer möglichst lässigen Miene entgegen zuschauen. Er saß da, vollkommen Seelenentspannt und so als hätte er alle Zeit der Welt. Sein blaues Auge noch von letzter Woche, war kaum noch zu erkennen. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie wissen, dass er schon seit mindestens über fünf Minuten hier so sitzen musste. „Endschuldigen Sie mich bitte, dass ich so spät heute dran bin. Der Bus hatte Verspätung und –" Ihr Gerede hörte sich noch leicht schnaufend an, während ihr leichte Röte ins Gesicht schoss und sie wie jedes mal, wenn sie nervös wurde, ihre schwitzigen Hände an ihrer Jeansjacke abwischte. „Sie müssen sich nicht Entschuldigen. Es hat gut getan, eine Zeit lang nur vor sich her zu sitzen, ohne verrückt gewordene Insassen schreien zu hören oder die Sorge zu haben, man könnte jeden Moment ein Brotmesser in den Rücken gestochen zu bekommen. Hat sich wirklich gut angefühlt." Er redete so davon, als würde er vom Wetter sprechen und sein Gesicht wirkte gelassen, so verdammt gelassen, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Sie wünschte sich, sie hätte einen anderen Insassen bekommen, einer, der ihr einfach direkt ins Gesicht sagen würde, was hier alles vor sich läuft und wieso er hier sitzt. Doch nein, sie musste einen bekommen, der so ausschweifend mit ihr redete, als wäre er ein angehender Philosoph oder ein einfach nur verrückt gewordener Insasse, der sich als ‚die Box' bezeichnete und andere mit Pandora oder Ikarus ansprach. Sie nickte einfach nur, nichts wissend zu antworten und wollte nur noch diesen Bericht anfangen. Er hingegen wirkte ausgelassen und es machte sie insgeheim rasend ihn so vorzufinden und sie konnte nicht einmal sagen warum. „Ich denke, dass es nun an der Zeit gekommen ist, wo wir unsere kennenlern Stunden hinter uns haben und wo wir über das Sprechen, weswegen ich eigentlich hier bin." Sein Blick wirkte immer noch sehr gelassen. „Okay, nur zu. Ich will Sie nicht von Ihrem Vorhaben abhalten." Dabei zwinkerte er ihr anzüglich zu und sie musste ungemein an ihre erste Stunde hier decken, wo er so fest daran bestanden hatte, dass sie doch eine Nutte sein musste. Widerlich. Diese Gedanken schnell beiseite legend, nahm sie ihren Kugelschreiber in die Hand und öffnete ihr kleines Notizbuch und sah wieder fast schon unsicher zu ihm rüber. Der Himmel hinter ihm war dieses mal wieder klar und die Sonne schien wie seit langem nicht mehr. Es war warm, angenehm warm, sodass man mit einem T-Shirt und einer lockeren Hose hätte durch die Gegend laufen können, doch sie konnte ihre Jeansjacke nicht ablegen, dass würde nicht zu ihr passen. „Ich hoffe Sie sind damit einverstanden, wenn ich Ihnen ab jetzt immer sehr direkte Fragen stellen werde." Sie machte eine kurze Pause um seine Reaktion zu beachten, doch seine Mimik hatte sich kein deut verändert gehabt und sie schien sich somit bestätigt zu fühlen. Gerade als sie zu ihrer ersten Frage ansetzten wollte, schien er aus seiner Tagträumerei entkommen zu sein und sah sie wieder mit diesen stürmischen grauen Augen an, die eigentlich so leer wirkten. „Natürlich. Es sind nur Fragen, Charlotte. Wenn ich Ihnen nicht antworten will, werde ich Ihnen so dreist wie ich nun mal bin, entweder ins Gesicht lügen oder schweigen. Fangen sie ruhig an." Sie konnte ihm das nicht glauben. Das er so gelassen auf direkte Fragen antworten würde. Sie konnte und wollte es nicht glauben. „Vergessen Sie nicht, Mr. Wir leben in einer Welt, wo Worte die Macht haben zu töten." Es wurde Still. So still, dass sie sich fast schon einbildete, sie konnte von draußen die vereinzelten Autos vorbeifahren hören. Seine grauen Augen sahen wie beim letzten mal auf einen Punkt neben ihren Kopf und sie fürchtete sich zu bewegen, aus Angst die Bombe würde explodieren. „Stimmt." Leise, fast schon hauchend, sprach er dieses Wort aus und sie wartete auf eine Geste von ihm, auf eine Mimik, dass er wirklich am leben ist. Und dann, ganz plötzlich, richtete er sich auf seinem Stuhl wieder gerade auf, wobei man das Klirren der Kette an seinen Handschellen hören konnte und er sah sie mit einem belustigten Ausdruck in seinem Gesicht an, dass sie sich fast schon um seine Stimmungsschwankungen sorgen machte. „Haben Sie diesen Satz auswendig gelernt? Der war wirklich gut. Erinnert mich an Karl Marxs, glaube das war er, Spruch, als der meinte: Die Religion ist des gesellschafts Opium. Oder so ähnlich. Was sagen Sie dazu?" Kindlich, war ihr erster Gedanke, als er plötzlich so freudig mit ihr sprach. Sie dachte an ein kleines Kind, dass einem unbedingt das Bild zeigen wollte, dass es mit so viel Mühe gezeichnet hatte. Doch auch erinnerte er sie an ein kleines Kind, dass sich vor den Monstern unter seinem Bett fürchtete und sich deswegen eine Lüge ausdachte, damit es im Elternbett schlafen durfte, ohne dabei schwach zu wirken. Er war ein halbes Kind, dachte sie. „Sie lenken ab. Fürchten Sie sich?" Es war ein Resultat und eine Frage, die sie ausgesprochen hatte, noch ehe sie darüber nachgedacht hatte. Sie bereute es schon in dem Moment, wo sie es ausgesprochen hatte. Sie wollte nur Antworten und er war bereit sie ihr, auch wenn nur halbwegs, zu geben und sie war so dumm, wieder irgendwie vom Thema abzulenken. „Schätzchen, ich lebe im Knast. Furcht darf man hier nicht spüren, dass lernt man schon sehr früh. Nur die Sorge ist für das Überleben hier notwendig und die richtigen Worte." Nicht wissend, was sie nun wieder darauf antworten sollte, schwieg sie. Sie sah auf ihr offenes Notizbuch und drehte den Kugelschreiber zwischen ihren Fingern hin und her. Ihre Uhr verriet ihr, dass sie nicht mehr lange hatte und sie wusste nicht ob das viel oder wenig Zeit war. „Ich würde gerne etwas loswerden, bevor Sie anfangen mich auszufragen. Darf ich?" Verwirrt zog sie ihre Stirn kraus und sah ihn an. Sein straßenköterblondes Haar fiel ihm in ein paar Strähnen auf seine Stirn und erst jetzt wurde ihr klar, wie hübsch dieser Mann vor ihr eigentlich war. Wie hübsch er hätte sein können, wären nicht diese leeren Augen, der orangene Overall, der fast nicht mehr vorhandene blaue Fleck unter seinem Auge, oder die Tatsache, dass er ein Insasse war, gewesen. Er musste vorher ein wirklich charmanter und gut aussehender Mann gewesen sein. Jetzt wirkte er einfach nur noch leer und deswegen auch vollkommen verloren. Sie hatte einfach nur stumm genickt, ihm erlaubt, dass loszuwerden, was auch immer er loswerden wollte und sie wartete ab. Wartete ab, auf ein Rätsel, das sie wohl wieder lösen musste.

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