Neues Zuhause

6 1 1
                                    

Der Flug war nervenaufreibend, weswegen ich jetzt erschöpft im Auto meiner Tante sitze. Ihr Blick war ebenso mitleidig, wie der aller anderen auch. Ihre Worte sollten tröstend sein, jedoch habe ich sie alle ausgeblendet, da sie nur noch mehr Schmerz auslösen. Ich will davon nichts hören!

Die Fahrt vom New Yorker Flughafen zum Haus meiner Tante dauerte ungefähr anderthalb Stunden, in denen sie redete und ich aus dem Fenster starrte, um meine neue Heimat zu betrachten. Ich bin dankbar, dass meine Tante und mein Onkel die schwere Last auf sich nehmen und mich aufnehmen, aber trotzdem würde ich mir wünschen, dass es anders gekommen wäre.

Häuser im großen Stil rauschen an mir vorbei. Irgendwann ändert sich die Landschaft und wird grüner. Die Häuser stehen nun in größeren Abständen zueinander und haben mehr Grundstück, vereinzelt sogar Kühe und Pferde. Alles wirkt idyllisch und ruhig. Fast schon, zu schön. Sofort fange ich an dem augenscheinlichem Paradies zu misstrauen. Ich weiß es besser. Die Ruhe kommt bekanntlich vor dem Sturm.

Irgendwann fahren wir auf einen Schotterweg, der zu einem Haus mit großem Grundstück führt. Meine Tante parkt ihr Auto neben einem großen grünen Jeep, der auf einem Platz mit vielen Autos steht.
Langsam öffne ich meine Tür und betrete zum ersten Mal mein neues Zuhause. Tief einatmend sehe ich mich um. Links von mir steht eine große Scheune, dahinter eine weitläufige Koppel, deren Ende ich kaum erahnen kann. Rechts von mir steht ein schönes Haus. Es erinnert mich ein wenig an mein ehemaliges Elternhaus und sofort steigen mit die Tränen in die Augen.

„Avery, kommst du mit rein oder willst du dich noch hier draußen umsehen?", werde ich von meiner Tante unterbrochen. Schnell schlucke ich und verdränge ich die Tränen und folge Sarah zum Haus, anstatt ihr eine Antwort zu geben.
Als wir drinnen sind schaue ich mich vorsichtig um und merke wie gemütlich alles wirkt. Es ist nicht modern und steril, sondern etwas altmodisch und nicht alles aufeinander abgestimmt. Innen unterscheidet es sich definitiv von meinem alten zuhause, was mich kurz erleichtert aufseufzen lässt.

„Hast du Hunger? Soll ich uns vielleicht was zu essen machen?", fragt meine Tante  und schaut mich lächelnd an.
Tatsächlich meldet sich in dem Moment mein Magen und gibt ihr so schon die Antwort. Sofort geht Sarah in die Kücbe und macht sich eifrig an die Arbeit, weswegen ich meine Begehung fortsetze.

Während Sarah rechts zur Küche gegangen ist, gehe ich erstmal den Flur entlang und sehe dann, dass es nach rechts zum Wohnzimmer geht.
Auch hier sieht es gemütlich aus. Viele Bilder hängen an der Wand, sowie Fotos, die ich nicht näher betrachte aus Angst meine Eltern und meine Geschwister entdecken zu müssen. Sarahs Familie und meine Familie hatten immer ein gutes Verhältnis zueinander, auch wenn wir uns aufgrund der Entfernung nicht regelmäßig gesehen haben.
Mitten im Raum steht ein großes Sofa, davor eine Kommode mit Fernseher.
Links von mir entdecke ich einen großen schwarzen Flügel, zu dem ich mich direkt hingezogen fühle. Ehrfürchtig streiche ich über die Oberfläche und über die Tasten. Ich setze mich auf den Hocker und lege meine Hände auf die Tasten und schwelge in Erinnerungen.

Ich bin 7 Jahre alt und sitze in unserem Musikzimmer am Klavier. Meine Mutter neben mir, die mich mit einem kleinen Lächeln betrachtet. Wieder spiele ich eines ihrer Lieblingsstücke. Kurz schaffe ich es ohne Fehler, doch dann drücken meine Finger falsche Tasten, weshalb das Stück plötzlich ziemlich falsch klingt. Wie immer wenn ich einen Fehler mache verschrenke ich meine Arme trotzig und ziehe einen Flunsch. Im nächsten Moment spüre ich die Hand meiner Mutter an meiner Wange. Sanft streichelt sie mit ihren schmalen Fingern über mein kleines Gesicht. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, denn das tut sie immer.
„Ach Schatz, irgendwann schaffst du es. Du musst nur ganz viel üben!", versucht sie mich aufzumuntern. Ich atme tief ein und schaue in ihr Gesicht. „Ich werde niemals so gut werden wie du", schmolle ich weiter. Sanft schaut sich mich an. „Ich war mal genau so klein wie du und ich habe nicht aufgegeben. Auch die kleinen werden mal groß." Schnell drückt sie mit einen Kuss auf die Stirn, legt ihre Finger auf die Tasten und beginnt zu spielen. Wie immer schaue ich ihr bewundernd zu.

Schnell blinzele ich mir die Tränen aus den Augen und wische die Nässe von meinen Wangen. Um den Erinnerungen zu entkommen stehe ich ruckartig auf und entdecke so Sarah, die im Türrahmen steht und mich traurig mustert.
Mit schnellen Schritten kommt sie auf mich zu und zieht mich in ihre Arme. Kurz bin ich überfordert, doch dann realisiere ich, dass auch sie jemanden verloren hat. Ihre Schwester. Vorsichtig lege ich meine Arme um sie und erwidere somit ihre Umarmung, was sie mutiger werden lässt, da sie sachte mit ihrer Hand über meinen Rücken streichelt. Irgendwann löse ich mich und schaue ihr in die Augen.
„Danke", sage ich.
„Dafür nicht, Avery. Du gehörst zur Familie!", erwidert sie lächelnd.

Zur Familie. Auch das lässt mich schon wieder traurig werden. Meine Familie ist tot.

Später sitze ich mit meiner Tante und mittlerweile auch mit meinem Onkel am Tisch und wir essen schweigend. Hin und wieder versucht mein Onkel Ryan ein Gespräch zu starten, jedoch merkt er schnell, dass ich nicht sehr gesprächig bin, weshalb er es schnell wieder aufgibt und sein Essen quasi in sich hinein stopft.

Nach dem Essen gehen Sarah und ich mit meinen Sachen in den zweiten Stock, wo mein neues Zimmer sein wird. Am Ende des Ganges öffnet Sarah eine Tür und sieht mich auffordernd an. „Auch wenn es dir schwer fallen wird, bitte fühl dich wie zuhause", sagt sie und lässt mich alleine.
Ich verschiebe es auf Morgen mich umzusehen, lasse mich mit Klamotten auf mein Bett fallen und schließe erschöpft die Augen als mein Kopf das Kopfkissen berührt.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: May 15, 2018 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Verloren und GefundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt