Sie betrat den riesigen Dom in ihrer Geburtsstadt, in die sie nach ihrem letzten Konzert vor wenigen Tagen zurückgekehrt war. Wieso es sie hier herzog, wusste sie nicht. Sie war einfach ihren Gedanken gefolgt und fand sich nun in dieser Kathedrale wieder.
Das mystische Dämmerlicht ließ sie frösteln, dennoch fühlte sie sich wohl. Sie beschlich sogar das Gefühl, dass eine höhere Macht sie hier her geführt hatte. Was sie wiederum gruselig fand, besonders, weil außer ihr niemand da zu sein schien. Sie begann sich umzusehen. Rechts von ihr brannten reihenweise Opferkerzen und augenblicklich fragte sie sich, wer gestorben war.
Im selben Moment wurde sie auch schon in die Erinnerung der Beerdigung ihrer Mutter reingezogen. Um den unglücklichen Gedanken loszuwerden, schüttelte sie den Kopf, tauchte ihre Finger in das Weihbecken und segnete sich, ehe sie ehrfürchtig eine Kerze anzündete und diese zu den Anderen gesellte.
Dann schaute sie sich weiter um. Die bunten Fresken sahen noch genauso aus, wie in ihrer Erinnerung, damals auf der Beerdigung ihrer Mutter. Sie hatte vor allen Trauernden das Lied „Amazing Grace" gesungen. Es erschien ihr damals nur angemessen, ihrer Mutter mit diesem Lied die letzte Ehre zu erweisen, weil dieses Lied so gut zu ihr passte und dies nicht nur, weil ihre Mutter den Namen Grace trug.
Plötzlich bemerkte sie, dass ihre Füße sie zum Altar trugen, genau an die Stelle, an der sie vor Jahrzehnten gestanden hatte, und sie verspürte innerlich diesen Drang. Noch ehe sie darüber nachdenken, geschweige denn es verhindern konnte, flossen ihr die Worte aus ihrem Mund:
»Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me...«
Seit der Beerdigung war sie nicht mehr hier gewesen, hatte jeden Gedanken an ihre Mutter verbannt, hatte nicht mehr dieses Lied gesungen, geschweige denn ihren Glauben wieder gefunden. Und nun sprudelte alles heraus, als hätten sich alle Gedanken, Erinnerungen und Worte gegen sie verschworen. Wie ein Schatten, der sich aufbäumte und auf sie stürzte. Dennoch hatte sie sich noch nie auf einer Bühne so wohl gefühlt, wie in diesem Moment. Und sie hatte schon an vielen bekannten Orten mit ihrer Stimme das Publikum verzaubert.
Jetzt konnte sie sich an diesem leeren Ort, der nur von ihrer Stimme erhellt wurde, nur selbst in Unglauben über ihre Opernstimme versetzen, die trotz Tränenfälle noch so klar und rein klang wie und je.
» Thro' many dangers, toils, and snares
I have already come
'Tis Grace that brought me safe thus far,
And Grace will lead us home...«
Erinnerungen blitzten immer wieder auf, während sie diese Strophe sang.
Sie sah sich nach ihrem Konzert im Wiener Opernhaus, wie sie sich Drogen durch die Nase zog und einiges trank. Sie sah eine ähnliche Szenerie in der Philharmonie in der Nähe des Doms. Sie sah sich nach ihrem letzten Konzert in England, bei dem auf Grund ihres anrüchigen Rufes bis zum Konzertbeginn nicht feststand, ob sie überhaupt auftreten durfte.
Auch nach diesem erfolgreichen Abend griff sie zur Flasche und zog sich das Pulver durch die Nase. Doch im Gegensatz zu sonst, stritt sie sich diesmal mit ihrem Mann, stieg ins Auto und...
In dem Moment wurde ihr bewusst, dass Gottes Gnade sie verlassen hatte und für wen die Opferkerzen waren.
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Amazing Grace
RandomEine Kurzgeschichte, die ich für einen Schreibwettbewerb bei mir in der Schule geschrieben habe. Eigentlich wollte ich sie schon längst hochgestellt haben, doch leider habe ich nicht daran gedacht. Viel Spaß euch mit der Kurzgeschichte. © Lyrics by...