Ebbe und Flut

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Sie stützt ihre Hände auf den kühlen Marmor der Fensterbank. Beinahe so kalt wie sie selbst. Tief atmet die junge Frau ein und aus, sie muss nun gehen.

Sie muss, sie will, sie weiß, dass sie kann. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Wissen etwas tun zu können und es auch wirklich zu können. Beispielsweise weiß sie, dass sie sich jetzt von der Fensterbrett lösen kann, doch ihr Geist kann nicht. Er sperrt sich dagegen.

Die kühle Glätte beruhigt ihn und somit auch sie. Es scheint als wäre er eine Konstante in ihrem zerbrochenen Leben. Wie oft hat sie hier gesessen und sich selbst bedauert; ihre immer weniger werdenden sozialen Kontakte, ihr mangelndes Selbstbewusstsein, ihren Drang sich durch wohltuende Schmerzen zu versichern, dass sie am leben ist.

Später dann, um die wunderbare Aussicht zu genießen. Tag täglich hat sie Ebbe und Flut gesehen. Beide sind vergänglich und doch kehren sie immer wieder, so wie ihre erneuten Depressionen. Sie empfindet es beinahe als eine Erleichterung, diese Erfahrung wiederholt zu durchleben und immer besser darin zu werden,  es zu verbergen. Kaum merklich ist sie daran gereift und trotz allem immer mehr erfroren. Nicht das ihr kalt gewesen wäre, aber sie wurde zu oft verletzt. Zu oft enttäuscht. Zu oft verraten.

Ausgenutzt. Ignoriert. Beschimpft. Geschubst. Geschlagen. Verprügelt.

Der Schmerz prägt ihr Leben, wie ein roter Faden zieht er sich durch ihre Geschichte. Doch damit ist nun Schluss. Ein letztes Mal wird der Schmerz von ihr Besitz ergreifen, sich aufbäumen wie ein wildes Tier und sie schließlich mitnehmen.

Dorthin wo ihr Bruder wartet.

Sie vermisst ihn unglaublich. Der Gedanke, dass ihr Versagen ihn enttäuschen wird, kommt zu spät. Das Fenster ist offen und der Schritt ins Leere getan. Ihr weißes Kleid flattert um sie herum, als wolle es den Sturz verhindern und das Mädchen fliegen lassen. Sanft im Wind treibend.

Wie ein Schmetterling.

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Liebe ist schon was komisches. Sie macht ein sowohl blind als auch offen. Sie macht einen so wohl stark als auch schwach.

Früher machte sie auch mich stark von innen. Gab mir das Gefühl geborgen zu sein und ließ mich für den Moment leben. Ich hatte keine Sorgen. Das Leben war leicht zu meistern und ich vergaß die Tücken des Alltags. Die Schmetterlinge in meinem Bauch füllten mich aus.

Dann war meine Zeit gekommen: ich reiste ab. Diese Enge hielt ich nicht mehr aus, lange hatte ich es unterdrückt. Ein hässlicher Streit tötete die Schmetterlinge brutal und mit gebrochenem Herzen ließ ich das Dorf meiner Kindheit hinter mir zurück.

Doch meine Liebe zu ihm ließ mich schwach werden. So oft es mir möglich war reiste ich zurück in mein Dorf,  zurück zu ihm. Die Schmetterlinge lebten wieder auf.

Und dann konnte ich nicht mehr.  Meine Schmetterlinge waren zu oft getötet und wiederbelebt worden. Ich brach den Kontakt vollständig ab.

Neben dem Kontaktabbruch musste auch eine äußerliche Veränderung her. Aus den immer kunstvoll geflochtenen Haaren wurde ein Bob. Aus dem dezenten Make-up wurde tiefschwarzer Kajal um meine mandelförmigen Augen zu betonen. Aus dem Good-Girl-Outfit wurde ein Bad-Girl-Outfit.

Tatoos schmückten in Form von kunstvollen Ranken mein Dekolleté und meinen Rücken. Ich ließ mir rechts und links drei weitere Ohrlöcher stechen. Schmerzhafte Erfahrungen, die mich von der konservativen Denkweise meiner Kindheit zu trennen begannen.

Aus Leah Venti wurde Leah Scottsdale.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 07, 2014 ⏰

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