„Die Transkription findet im Kern statt. Durch das Enzym Transkriptase entsteht die einsträngige und kurzlebige m-RNA. Thymin wird hierbei durch Uracil ersetzt..." Der Alte labert an der Tafel irgendetwas von der Proteinbiosynthese, während die pralle Sonne durch das Fenster direkt auf mich strahlt.
Ich schwitze. Ich bin müde und bin froh, wenn ich nach dieser Stunde endlich nach Hause gehen kann. Es ist so heiß. Zu heiß für meinen Geschmack. Der Unterrichtsstoff interessiert sowieso keinen und ich weiß nicht, warum man uns nicht schon längst Hitzefrei gegeben hat.
Allmählich schweifen meine Gedanken ab. Wie schön wäre es, wenn ich die Schule endlich hinter mir hätte. Dann hieße es: ¡Hasta la vista Leute! Auf Nimmerwiedersehen!
Sofort zöge ich aus und ginge mit Katharina in eine andere Stadt. Vielleicht nach München, vielleicht sogar Berlin. Hauptsache weg aus diesem Kaff.
In der Großstadt würde ich erst einmal BWL studieren und zusammen mit ihr in einer WG wohnen. Sie meinte zwar, sie wolle Psychologie studieren, aber in München oder Berlin wird sie sicher die Möglichkeit dazu haben, ohne dass wir so weit voneinander getrennt sein müssen. Schließlich kennen wir uns seit der dritten Klasse und sind immer unzertrennlich gewesen, wieso sollte es nach der Schule anders laufen?
Und wenn ich erst einmal volljährig bin, können mir meine Eltern gar nichts mehr sagen. Ich werde endlich frei sein und tun und lassen dürfen, was ich will. Nie wieder Druck wegen der Schule, nie wieder Party- und Ausgehverbote und nie wieder Hausarrest mehr!
Ich würde endlich so richtig mit Kathi feiern gehen und das Leben genießen. Und eines Tages lerne ich dort meinen absoluten Traumprinzen kennen. Braunhaarig, grünäugig, durchtrainiert,...
„Tessa, sind Sie noch anwesend? Nennen Sie mir mal drei Unterschiede zwischen der DNA und der m-RNA." Der Alte lässt meinen Tagtraum wie eine Seifenblase zerplatzen. Ich stöhne innerlich. Blöder alter Sack. Wie ist der bloß Lehrer geworden?
„Ähm...", mache ich. Er zieht seine buschigen Augenbrauen auffordernd nach oben.
Ich räuspere mich. „Thymin statt Uracil?"
„Ja, nun ist die Frage, wer was besitzt." Er verschränkt die Arme vor der Brust. 19 weitere Augenpaare starren mich an.
„DNA besitzt...Uracil?", versuche ich es.
„Es war eine 50:50 Chance und Sie haben es vergeigt. Ich bin wirklich sehr enttäuscht von Ihnen. Passen Sie lieber besser auf, Tessa, das ist wichtig für die Klausur. Sie möchten doch ihr Abitur schaffen", sagt er und wendet sich wieder ab, um seinen Monolog fortzusetzen. Ich verdrehe die Augen. Biologie ist doch überhaupt nicht wichtig, wenn ich später in die Wirtschaft gehen will. Warum begreifen die Lehrer es bloß nicht?
Ich schaue aus dem Fenster. Ich war bei meinem Traumprinzen stehengeblieben. Also, er ist braunhaarig, grünäugig, durchtrainiert, stark und von Beruf Informatiker. Er sähe mich im Club, spräche mich an. Wir würden uns kennenlernen und irgendwann zusammenkommen. Und wenn die Zeit reif ist, würde er mir einen Antrag machen und wir würden heiraten. Die Flitterwochen verbringen wir dann auf den Malediven.
Aber wie wahrscheinlich wird es sein, dass ich genau auf so einen Mann treffe? Mir ist klar, dass die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering ist. Vielleicht gäbe ich mich aber auch schon mit einem blonden Informatiker oder einem braunhaarigen Anwalt zufrieden.
Egal wie mein Zukünftiger aussieht oder wer er sein wird, wir würden als Ehepaar in einem Einfamilienhaus am Rande der Großstadt wohnen. Sobald die Zeit gekommen ist, kriegten wir zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter. Außerdem kauften wir uns noch einen Hund, der am liebsten Olaf heißen sollte. Wir würden als glückliche Familie ohne finanzielle oder soziale Probleme mit Katharina und ihrer neuen Familie als Nachbarn bis ans Ende unserer Tage leben.
Schön wär's.
Es ist sehr naiv von mir zu denken, dass meine Eltern mich alleine so weit wegziehen lassen, geschweige denn dass ich es schaffe, meine Freundschaft mit Katharina so lange zu bewahren. Sie möchte am liebsten hier in der Stadt bleiben und ihrer Familie nahe sein, während ich am liebsten in die nächste Metropole ziehen will.
Außerdem bezweifle ich, dass sich ein Einfamilienhaus so leicht in einer Großstadt finden lässt. Es war für meine Familie schwierig genug, eine einigermaßen okaye Wohnung in unserer Stadt zu finden, als wir hierher gezogen sind.
Und was ist mit meinem Traummann? Pustekuchen. So einer wie Channing Tatum existiert wohl nur in Filmen. Ich meine, wie viele braunhaarige, grünäugige, durchtrainierte und starke Informatiker kennt man? Also ich kann jetzt keinen Jungen nennen, der nur annähernd so gut aussieht wie er.
Und mein mittelmäßiger Notenschnitt von 3,0 reicht höchstens für ein Studium in einer mittleren Großstadt wie Bonn oder so. Und in so einer mittelgroßen Stadt sehe ich keine blendende Zukunft vor mir.
Vielleicht hat der Alte Recht. Ich sollte mich wirklich mehr in der Schule anstrengen, um meinen Schnitt wenigstens ein bisschen zu verbessern. Ein besserer Abschluss bedeutet eine bessere Voraussetzung für meine Zukunft. Mir ist klar, dass alles, was ich mir jetzt für meine Zukunft vorstelle, nur Klischees sind. Es ist nur das Abbild des perfekten Lebens, das ich mir vorstelle. Ich kann dieses perfekte Leben niemals führen, wenn ich in der Schule weiterhin so schlampig arbeite. Kein guter Abschluss bedeutet kein guter Studienplatz, das bedeutet kein Geld für eine WG, das bedeutet keine Zeit für Clubs und das wiederum bedeutet kein Aufeinandertreffen mit Pseudo-Channing-Tatum. Und ich führte kein glückliches Leben mit zwei Kindern und Olaf in einem teuren Einfamilienhaus am Rande der Großstadt.
„...und kann mir jemand sagen, was mit der prä-m-RNA bei Eukaryoten nach der Transkription passiert?", fragt mein Lehrer. Daran kann ich mich von letzter Stunde sogar erinnern.
Ich melde mich. Erstaunt nimmt er mich dran. „Ja bitte, Tessa."
„Die prä-m-RNA bekommt eine Kappe und einen Poly-A-Schwanz, die als Schutz vor Abbau dienen und die Lebensdauer der m-RNA regulieren. Außerdem werden Introns entfernt, was man Spleißen nennt", erkläre ich.Er wirft mir einen überraschten Blick zu, dann lächelt er. „Meine stolze Anerkennung, Tessa. Ich sehe, Sie können eine Menge abliefern, wenn Sie sich nur ein bisschen mehr anstrengen."
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Zukunftsträume
Teen FictionEine Kurzgeschichte aus dem Bereich Adoleszenzgeschichten über ein Mädchen, das sich ihre Zukunft ausmalt.