sieben

50 2 0
                                    

13. Juli, (Samstagnacht) 

Sie murmelt, sie zischt, diese Stimme. Und ich lausche ihren geflüsterten Vorschlägen, diesem atemberaubenden Zauber, der die nächtliche Dunkelheit umgibt. Und wieder fühle ich, wie die Schatten, der Deckmantel aus Schwärze auf meinen Schultern ruht und meine Sinne schärft. Und die hellen Strahlen des großen, spottenden Mondes scheinen zu mir hinunter, doch es glelingt ihnen nicht, mich aufzuhalten. Nein, diesmal nicht. Diesmal würde ich alles richtig machen. Und diesmal würde ich wieder dem verzückenden Rausch verfallen, dieses süße Gift, dass durch meine Adern strömt. Meine Schritte sind leise, kaum zu hören auf dem hellen Kies, der auf der Einfahrt zum Hafen liegt. Wie ein Schatten, wie eine Ahnung von dem, was ich bin, unsichtbar für den Betrachter, gleite ich auf den Steg, näher, immer näher an das große Boot heran. Kein Licht brennt, kein Geräusch stört die pulsierende, lebende Nacht. Nur das monotone Schwappen der Wellen und die weit entfernten Geräusche der Autobahn ein paar Kilometer von hier sind zu hören.  Jetzt betrete ich die Yacht. Mein Atem bildet einen feinen Nebel, der vom Wind davon getragen wird, als ich das kleine Messer aus meiner Tasche ziehe. Ich setze es an. Es dauert nicht lange, nur eine Seunde, dann ist die Tür offen: der Weg in das innere des Botes ist freigelegt. Ich husche schnell hinein und die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Stille. Ohrenbetäubende, gewaltige Stille. Nur durchbrochen von meinem eigenen Atem und dem gleichmäßigen, schnellen Schlägen meines kleinen, teuflischen Herzens. Ich sah mich auf der Yacht um. Mazanti hatte keine Kosten gescheut, der Innenraum der "Wayward Wind" war äußerst geschmackvoll eingerichtet: der Boden bestand aus dunklem Holz, die wände waren mit einem beigen Lederpolster ausgekleidet und ein kleiner Glastisch stand in der Mitte des Raumes. Es roch alles leicht nach Zitrone, so eine Art Duftkerzengeruch, von dem mir immer schlecht wird. Ich schluckte. Ich sollte  mir nicht zu viel Zeit lassen, obwohl ich gerne noch etwas den Moment ausekostet hätte.  Ich brauchte diese Unterlagen, deswegen war ich hier. Konzentriere dich! ermahnte ich mich. Eine schmale Tür führte vom Aufenthaltsraum auf die Schiffsbrücke, durch eine andere konnte man in die verhälltnissmäßig spartanisch eingerichtete Kapitänskajüte. Wonach sollte ich suchen? Nach einem Safe? Vielleicht war es ein Bodenfach oder ein hohlraum in einer der Wände? Oder hatte Mazanti seine Papiere einfach in seiner Sockenschublade versteckt, wie alle anderen Menschen auch? Nun, das würde nicht zu seinem Bösewicht-Image passen. Aber hey, ich passe doch eigentlich auch nicht gerade in die Rolle des klassischen Bösewichts, oder? Wer bitte würde sich eine Geschichte über einen kleinen, unscheinbaren Nerd ausdenken, der ein Doppelleben führt und nachts zum mächtigen Monster wird um Portlands Straßen zu säubern? Nur ein Irrer. Das klingt jetzt irgendwie nach Anti-spiderman oder sowas. Und so ein Typ würde noch nicht einmal als Fiesling in irgend einem Disneyfilm durchgehen. Obwohl ich und Mazanti eine Sache gemeinsam haben: wir führen beide ein Doppelleben; er als erfolgreicher, ehrlicher Geschäftsmann, der seine Frau liebt und ich als harmloser, rechtschaffender Bürger. Plötzlich hörte ich das Geräusch zuschlagender Autotüren und Schritte.Sie wurden immer lauter. Verdammt, verdammt, verdammt! Mazanti? Jetzt? Okay, ich sollte vielleicht mal mein Vocabular erweitern und mir ein paar neue Wörter zum Fluchen suchen, die vielleicht etwas origineller sind als "verdammt", aber wieso werde ich neuerdings immer dann unterbrochen, wenn ich gerade auf einem nächtlichen Trip bin? Das ist nicht fair! Ich ging vorsichtshalber hinter einem der mit dunklem Leder bezogenen Sofas in Deckung. Und das war meine Rettung, denn gerade in diesem Moment drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür zum Schiffsinnenraum ging auf. Mazanti stand da- was für eine Überaschung! Und noch eine Frau mit kurzem, hellblondem Haar- war das Maggie Mazanti? "Was machen wir hier, Paolo? Ich dachte wir wollten essen gehen?" sie klang verunsichert. "Ja, gleich. Warte kurz!" erwiderte er gereizt und steuerte auf eins der Sofas zu. Zum Glück war es nicht das, hinter dem ich mich verzogen hatte, aber die beiden standen so nahe beisammen, ich hätte nur meinen Arm strecken müssen, um Mazanti zu berühren. Leicht nervös- und das ist etwas ganz besonderes, bei einem emotionslosen Wesen wie mir- hielt ich den Atem an. Wie sollte ich dem Konkurrenten meines Chefs erklären, dass ich hinter seinem Sofa mit ihm verstecken spielte? Mazanti klappte das schwere Polster des Sofas hoch. Er hatte eine Art Hohlraum freigelegt- wie ich vermutet hatte! Dort lag ein kleiner, dünner Ordner mit der beschriftung "äußere Angelegenheiten- Privat". Wussten Sie, das man rechtlich gesehen, als Pirat gilt, wenn man ein Verbrechen auf einem Boot oder Schiff verübt? Ich muss zugeben, ich fühlte mich nicht sehr piratig, als ich sah, wie Mazanti den Ordner an sich nahm und mit seiner Frau von Bord ging. Ich wartete einen kurzen Augenblick, nur um sicher zu gehen. Als ich hörte, wie ein Automotor angelassen wurde, kam ich aus meinem Versteck hervor. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte. Kurzerhand beschloss ich, dass ich woh nichts weiter tun könnte, als darauf zu warten, dass Captain Mazanti seinen Schatz wieder an Bord versteckte. Dann würde ich wiederkommen und mir das Ding unter den Nagel reißen! Das einzige was fehlte, war ein Weg, wie ich ihn überwachen konnte. Ich wäre wohl kaum in der Lage, in vierundzwanzig Stunden am Tag zu beschatten, da ich erstens nicht mal annähernd so viel Geld besaß, wie er, sondern einen Job hatte, zu dem ich erscheinen musste, und zweitens hatte ich keine Lust ihm oder irgendjemandem erklären zu müssen, wieso wir beide uns mehrmals am Tag 'zufällig' über den Weg liefen. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Als ich die "Wayward Wind" verließ, verriet mir ein Blick auf meine Uhr, dass es kurz nach elf Uhr war. Jetzt bei Anne aufzutauchen und sich förmlich zu entschuldigen, war wie Selbstmord. Und ich muss sagen, dass ich noch nie sonderlich von Selbstmord begeistert war.

Sanguinum - Tagebuch eines Serienmörders | Vol. 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt