fünf

58 4 0
                                    

12. Juli, (Freitagnachmittag)

Ich setzte das silber glänzende Messer an und zerteilte das helle Fleisch kunstvoll, mit einer grazöisen Handbewegung, wie ein Künstler seinen Pinsel führt. Dann machte ich weiter, bis ich mehrere gleichgroße Teile vor mir liegen hatte. "Kannst du bitte aufhören, dein Hühnchen so melodramatisch zu zerschneiden? Iss es doch lieber mit den Fingern!" meinte Alex ammüsiert. "sagte der Staatsanwalt im 500$ Anzug." war meine schlagfertige Antwort. Alex, der Typ, in dessen Haus Miss Alvarez das Zeitliche gesegnet hatte, und der zufällig seit dem ersten Semester an der Uni mein bester Freund war, beehrte mich nach seinen endlos langen Flitterwochen mit einem Mittagessen. Er grinste. "Du kannst gar nicht glauben, wie ich unsere Essen vermisst habe. Versteh mich nicht falsch- Honeymoon mit Linda war toll, aber..." ich nickte weise. Ich habe keine Ahnung wovon er da redet. Alex grinste. "Eigentlich wollte ich heute ja meinen Zweitschlüssel zurückverlangen, aber ich denke, du kannst ihn behalten." "Wow, ähm, Danke!" "Weißt du, wir sind schon so lange befreundet... ich habe da Gefühl, ich kenne dich wie niemand anderen." Fast hätte ich gelacht- Alex kannte einen emotionalen David, der David, der keiner Fliege was zu leide tun konnte, ein echter Gentleman. Aber er hatte keine Ahnung, das dass nicht der echte David war. Und ich wäre nicht begeistert, wenn er das erführe. Ich weiß, es mag komisch erscheinen, aber wenn ich etwas für jemanden empfinden könnte, dann für ihn. Für Niemand anderen. Aber weg von dieser unerträglichen Tiefgründigkeit: Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen und ich hatte in jeden Winkel von Mazantis Laptop geschaut, jede noch so kleine Datei geöffnet- nichts. Es schien, als seien die Aufzeichnungen über die Überweisungen an Offshorekonten das einzig brauchbare gewesen. Ich sollte anders an die Sache herangehen. Auch der unglückliche "Unfall", wie ihn mein Bruder umschrieb, ließ mich nicht los. Was war nur los mit dieser Stadt? Jeder schien nach und nach verrückt zu werden! Schon ironisch, das gerade ich das denke. "Und? Hast du schon Pläne für das Wochenende?" fragte Alex. Ich wandte meinen Blick von meinem Hühnchen ab. "Nicht wirklich. Du?" Er lächelte verunsichert. "Deine Schwester hat mich angerufen. Sie fragt, ob ich nicht Zeit hätte, ihr morgen nachmittag bei ihrem Umzug zu helfen, irgendwas mit schweren Möbeln. Und ich soll dir ausrichten das du ihr "verdammt noch mal helfen" sollst. Das war ihre genaue Wortwahl. Sie klang ziemlich bedrückt." Anne? Bedrückt? "Also das klingt jetzt nicht nach meiner Schwester. Und wo bitte hat sie deine Nummer her?" er schüttelte den Kopf "Keine Ahnung, Mann." Das hatte gerade noch gefehlt: wenn meine Schwester so aufgebracht war, hatte es sicherlich mit Lucas zu tun, was heißen würde, dass ich bei ihren Streitigkeiten zwischen die Fronten geraten werden würde, kein schöner Anblick, glauben Sie mir das. Alex sah auf seine Uhr und fluchte leise. "Ich muss los, David. Wir sehen uns morgen abend!" ich nickte Alex ein letztes mal zu, als er seine Tasche packte, war aber in Gedanken Lucas und Anne. Die beiden hatten schon immer Schwierigkeiten miteinander gehabt und ich konnte mich noch an ihre letzte große Auseinandersetzung erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Ich hörte das leise, gleichmäßige Piepen der Geräte, die besorgten Stimmen der Ärzte auf dem Krankenhausflur, die trotz der geschlossenen Tür zu mir drangen und den flachen Atem der Gestalt im Bett vor mir. Der sterlie Geruch des Krankenhauses stieg mir in die Nase, ich wischte mir die Müdigkeit aus den Augen und stand auf, ich brauchte frische Luft, dringend. Die Tür ging auf, ein junger Mann, Neunundzwanzig Jahre alt, mit einem entgeisterten Gesichtsausdruck stand dort. Lucas. Er ging ein paar Schritte auf das Bett zu, blieb stehen, als er die Gestalt erkannte, die regungslos dalag. "Mum." Seine Stimme war nur ein krächzen. Jetzt suchten seine Augen den Rest des kahlen, halbdunklen Zimmers ab und blieben an mir hängen. "Was ist passiert?" flüsterte er. "Sie...sie war gerade dabei, das Abendessen zu machen, als es passierte." stammelte ich. Er streckte eine Hand aus, um ihr blasses Gesicht zu berühren, als die Tür krachend aufflog und eine Junge Frau im Eingang stand, mit rotem Gesicht und unbändiger Wut in den Augen. Ihre Fäuste waren geballt, ihre Handknöchel weiß und ihre Lippen bebten. "Du." ihre Stimme bebte vor Zorn. "Du!" rief sie jetzt lauter und ging zielstrebig auf ihren Bruder zu. "Das ist alles deine Schuld! Wieso musstest du sie so aufregen, wieso? Weil du Geld brauchtest? Weil du es nicht alleine hinbekommen hast, dein Leben auf die Reihe zu kriegen? Weshalb musstest du sie so unglücklich machen?" fauchte sie ihn an und ich beobachtete, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. "Sie wird sterben und es ist deine Schuld!" "Meine Schuld? Du denkst wirklich, dass sei meine Schuld?! Verdammt, Anne!" er sagte es lauter als beabsichtigt. Sie strich sich das zerzauste, blonden Haar aus dem Gesicht. "Ich hasse dich." Er keuchte und riss die Augen auf. "Verschwinde." sagte sie ruhig. "Anne..." meine Stimme war leise und eindringlich, die beiden drehten sich zu mir um, sie hatten meine Anwesenheit ganz vergessen. Annes Züge wurden weicher. "Es tut mir leid, David." sie fing leise zu schluchzen an. Lucas stürmte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, während ich meiner Schwester still ein Taschentuch reichte.

12. Juli, (Freitagnacht)

Mein VW parkte auf der Gegenüberliegenden Straßenseite, als ich beobachtete, wie der heruntergekommene Mann aus dem Schatten des Hauseingangs trat, umsah, die Straße zügig überquerte und sein Auto ansteuerte. Er hieß Hugh Wilson, ein Drogendealer, einer von der Sorte, der seine Ware an Achtklässler verkaufte. Er war mir schon früher hier aufgefallen und schien der perfekte Spielgefährte zu sein: er hatte keine nahen Verwandten, keine Freundin, nur ein Haufen von Schulden und eine magere Katze. Mein Leben schien in der letzten Woche sehr viel komplizierter geworden zu sein, als ich geahnt hatte und das eindringliche Murmeln in meinem Kopf war wieder lauter geworden. Ich brauchte eine kurze Erholung, und zwar so schnell wie möglich. Wie immer, wenn ich mich vorbereitete, spürte ich, wie die Last der letzten Tage von mir abfiel. Man sagt ja, Stress sei nicht gut für den Körper. Bedächtig zog ich mir meinen dunkelblauen Kapuzenpullover über und stieg aus meinem Wagen aus. Langsam fühlte ich, wie das Flüstern in mir lauter wurde, mich lenkte. Die Dunkelheit schien flüsstig zu werden, waberte in der nächtlichen Landschaft umher und hüllte mich in einen schwarzen Mantel. Ich ließ mich von meinen Gefühlen leiten, leise und flink glitt ich die Straße entlang, mied das spärliche Licht der Laternen, hörte den Atem meines Opfers. Der Mond blickte auf uns herunter, als ob er das Leben, unser Leben, verspotten wollte. Wilson blieb stehen. Hatte er mich bemerkt? Unmöglich. Ich verbarg mich hinter einem rostigen, grünen Pickup. Ein leises Rufen brach die Stille der Nacht. "Wilson. Hey!" die Frau trat aus den dunklen Schatten des herunergekommenen Wohnblocks. Sie hatte blutunterlaufene Augen, ihr Haar war splissig und kaputt, ihre Kleidung abgetragen. "Hast du noch was von dem Zeug, das du mir Donnerstag gegeben hast?" Er verdrehte die Augen. "Gegen ein bisschen Bares kriegst du noch was davon." Sie schüttelte eilig den Kopf. "Ich hab grad' nichts da, aber morgen kann ich's dir zurückzahlen." Wilson zündete sich eine Zigarette an. "Nichts da?" Frustriert strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. "Nein, bitte-" "Tut mir leid, aber entweder zahlst du jetzt, oder gar nicht. Das Zeug hat echt 'ne super Qualität. Das kann ich dir nicht einfach so geben." Sie stieß einen Fluch aus. Das ganze dauerte mir zu lange. Ich zog mich zurück, erstarrte aber urplötzlich, etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Ich bin nicht der einzige, der jemanden beobachtet. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich drehte mich abprupt um. Die Straße war leer, da war nichts. Hatte ich mich geirrt? Hatten mich meine Sinne getäuscht? Spielten das Mondlicht und die kühle Nachtluf mir einen Streich? Mitlerweile war Wilson weitergegangen. Jetzt oder nie. flüsterte die Stimme in mir und ich schlug zu. Schnell lief ich auf ihn zu, in einer Hand den in Chlorophorm getränkten Lappen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Wilson drehte sich bei dem Geräusch meiner Schritte um, sein Gesicht war voller Furcht. Aber er sah nicht mich an- er schien hinter mich zu schauen. Es geschah plötzlich und unerwartet, der Schmerz durchzuckte mich blitzartig, wie der Biss einer Schlange. Ich fiel auf den Boden und rang nach Atem. "Was zum-?!" keuchte ich. Wilson wurde aschfahl und rannte. Ein zweiter Schlag, diesmal gegen meinen Brustkorb ließ mich schmerzerfüllt aufschreien. Und wieder war da dieses weiße Licht, es blendete und ich zwang mich, meine Augen zusammenzukneifen. Mein Gesicht brannte und mein Rücken schmerzte höllisch, dort wo mich der erste schlag getroffen hatte. Das schwere Atmen meines Angreifers war das einzige, was ich hörte. Ahhrgh! Mein Inneres verkrampfte sich, ich spürte wie mir Blut über die Stirn lief. Wieso muss das immer mir passieren? Als ich meine Augen einen Spalt breit öffnete, sah ich eine verschwommene Gestalt, ich konnte nicht mehr erkennen, als das er oder sie eine Skimaske trug- wirklich? Eine Skimaske? Der Typ hatte echt zu viele Actionfilme gesehen! Der Angreifer sah einen Moment auf mich herab, hob etwas vom Boden auf und drehte sich um, um zu gehen. "Hey!" brachte ich heraus. Er drehte sich noch ein letztes mal um. Ich hätte schwören können, dass er unter seiner Maske verächtlich eine Augenbraue hochzog, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

Sanguinum - Tagebuch eines Serienmörders | Vol. 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt