Graue Wolken zogen sich am Abendhimmel zu einer undurchdringlichen Masse zusammen. Die gesamte Landschaft wurde getaucht in eine tiefe, geheimnisvolle Schwärze, als wäre jegliche Farbe vom Antlitz der Welt gewichen.
Es war ein dunkler Tag. Tränen des Wolkengestirns klatschten gegen die kalten Fensterscheiben der Eingangshalle und verharrten für einen Moment der Ruhe. Dann rannen sie flüsternd am Glas hinab, dieser Aderlass des Himmels, in Bahnen, wie stummes Blut an tauber Haut.
Das Säuseln des Windes wurde in seinem Gehörgang zu einem tosenden Sturm.
Die langsamen Schritte, vor wenigen Augenblicken noch an den hohen Steinwänden widerhallend, verstummten.
Der Schauer versiegte so schnell, wie er begonnen hatte.
Stille…
Oraius konnte sie nun sehen: Die massive Eichentür, unermüdlicher Pförtner zwischen zwei Welten, die verschiedener nicht hätten sein können. Abgesehen von ihrer glänzenden Holzmaserung war sie schmucklos und stand somit im merklichen Kontrast zum Rest der pompös eingerichteten Halle, die den Mittelpunkt des großen Anwesens seiner Familie darstellte.
Er konnte den Pfad deutlich vor sich erkennen, doch war er sich nicht sicher, ob er sein Ziel jemals erreichen würde. Er wollte weitergehen, doch Aufregung schoss durch seinen Leib, auf Regung seiner Beine konnte er lange warten.
Reiß dich zusammen, es ist nur er, sonst niemand, dachte Oraius fieberhaft. Feine Perlen bildeten sich wie feuchte Aquarell-Tupfer auf seiner Stirn und in seinem Haar. Er schluckte und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Ein letztes Mal sah er sich um.
Die Halle war ein sehr festlich gehaltener Ort, an dessen Anblick er sich selbst nach all den Jahren noch erfreuen konnte. Doch trotz der nostalgischen Schwärmerei konnte er nicht verdrängen, dass sich an jedem kleinsten Detail der Einrichtung die Dekadenz des Hausherren ablesen ließ. Skulpturen, Gemälde und andere Erzeugnisse der berühmtesten Künstler des Landes wetteiferten um die Gunst ihrer Betrachter, und die Wände waren behangen mit edelsten Seidenstoffen entlegenster Gestade. Eine große Treppe mit elegantem Weißholzgeländer, verziert mit verschlungenen Schnitzereien, führte hinauf in den ersten Stock, wo schlanke Gänge den Weg zu den Schlafgemächern wiesen. Dort wo die Säulen der Halle zur hohen Hängekuppel zusammenflossen hing ein mächtiger Kristallkronleuchter, das Licht in ihm gebrochen wie die Wellen das Delta.
Oraius schnaubte verächtlich und verzog die Mundwinkel.
Heute werde ich dir all meinen Hass entgegenwerfen, Alter, fluchte er innerlich, während er die Fäuste unwillkürlich ballte. All seine Kraft zusammennehmend, setzte er einen Fuß nach vorne.
Echos verklungener Worte drängten sich in sein Bewusstsein.
„Hör auf so etwas zu sagen! Er ist dein Vater!“
„Er ist nur irgendein Kerl! Wenn er mich mal rauslassen würde, würde ich auf der Straße dutzende Männer finden, die mir ähnlich nahe stehen!“
Er konnte die bittere Wut beinahe noch an seinem Gaumen schmecken.
„Du weißt, dass er sich nur um dich sorgt und dich beschützen will!“, hatte seine Mutter behauptet, den Tränen nahe.
„Ich bin sechzehn Jahre lang ohne Vater aufgewachsen, wie viel besser soll ich noch auf mich alleine aufpassen können?!“
Er biss die Zähne zusammen, beschleunigte seine Schritte.
„Du hast nie versucht ihn zu verstehen!“
„Oh ja, sicher, am Ende war es alles meine Schuld! Er pflegt Geschäftsbeziehungen, die inniger sind, als seine zu mir!“
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Das Schwert der Roten Horde
FantasyEine High Fantasy-Geschichte über Unterdrückung und Revolution, über Verrat, aber auch tiefempfundene Freundschaft, über die Hoffnung, aus dem Schatten herauszutreten, über Liebe und das Erwachsenwerden, über einen heranwachsenden, verschüchterten J...