Kapitel 1 - Das Kind im Nebel

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Ein Windstoß preschte heran, flink und ohne Nachhaltigkeit, doch die hastig im Kies des Weges hinterlassenen Spuren legten Zeugnis ab von seiner Existenz. Die Schnelligkeit des Galopps drückte den Reiter tief in den Ledersattel. Sein Antlitz lag verborgen hinter der wallenden Mähne, Schutz suchend vor der kalten, drängenden Luft, die ihm entgegenschlug und die Röte in sein müdes Gesicht trieb. Er schloss die brennenden Augen, vertraute blind den ihm bereits seit Jahren bekannten Bewegungsabläufen seines Gefährten, doch die Tränen brachen den Damm, den seine Lider bildeten.

Helles Leuchten badete ihn, wie in einer Wiege des Sonnenlichts neu geboren, sodass er den Arm reflexartig vor den Kopf hielt und seine Knie fester an den Sattel presste, um nicht die Balance zu verlieren. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen.

Hinter Tyrus lagen sechsunddreißig Stunden beschwerlicher Ritt durch die Skrâl-Wildnis, einem rauen, dunklen Landstrich weit abseits menschlichen Einflusses. Die schwerste Etappe seiner wichtigen Reise hinter sich wissend, öffnete er die zusammengekniffenen Augen nun völlig und strahlte dem wolkenlosen Himmel des Torin-Waldes entgegen. Die zuvor unterschwellige Ermüdung machte sich nun auch in den schwer wie Blei gewordenen Gliedern bemerkbar. Er wusste, dass es an der Zeit war zu rasten. Und er wusste, dass jeder der Tatenlosigkeit preisgegebener Moment das Leben Vieler kosten könnte.

Doch sie waren beide am Limit ihrer Kräfte, und so entschied er sich gedanklich für eine Rast. Als hätte sein treuer Gefährte Windstoß die unausgesprochenen Worte stumm zur Kenntnis genommen, schlich sich ein Holpern in den sonst so makellos wie ein Uhrwerk verlaufenden Galopp des Pferdes. Windstoß drosselte sein Tempo annähernd zum Stillstand, und die kühle Luft, die um Tyrus' Ohren geschlackert war, beendete ihren Widerstand. Es war, als würde ein lang anhaltendes Geschrei zu einem Flüstern abflauen.

Mit steifem Nacken und angestrengtem Seufzen erhob Tyrus sich im Sattel, schlug ein Bein zur rechten Seite über und stieg vom Pferd ab. Durch einen festen Tritt vergewisserte er sich des Bodens zu seinen Füßen. Der Kies knarrte wie ungeölte Scharniere unter seinen Wildlederstiefeln.

Tyrus ließ die in filigranen Handschuhen befindlichen Hände ein paar Mal knackend um die Gelenke kreisen, spannte die Schultern und atmete hörbar aus. „Ich werde alt, Windstoß“, lächelte der Mann bitter, sich der Schmerzen in all seinen Knochen bewusst werdend. Doch Windstoß war unterdessen damit beschäftigt, die Gräser am Wegesrand genüsslich zu verspeisen. Aus aufmerksamen grünen Augen betrachtete er das Pferd schmunzelnd und nahm die Zügel zur Führung.

„Ich könnte auch etwas vertragen, futtere nicht alles für dich allein! Komm, wir suchen uns ein netteres Plätzchen.“, sagte er bestimmend und führte den protestierend mit den Hufen schabenden Wallach abseits des Weges. Windstoß gab seinen Widerstand jedoch schnell wieder auf, wohl wissend, dass der Mensch einen noch größeren Dickkopf besaß.

Während die beiden ungleichen Gefährten sich in Bewegung setzten und einen sanft ansteigenden Hügel voller saftiger Gräser erklommen, löste Tyrus routiniert den Riemen einer der Satteltaschen, um ein zusammengerolltes Pergament zu Rate zu ziehen. Die verschlissenen Ränder des Dokuments, die auf häufige Benutzung schließen ließen, drohten gefährlich einzureißen, als Tyrus sie zu entrollen gedachte. Es war eine detaillierte Karte des Nordens von Thalanor, dem Königreich des Wassers, wie es im Rest der Welt bekannt war. Seine eigens eingetragenen Markierungen begutachtete der Mann jedoch mit einiger Skepsis. Verwundert blieb er abrupt stehen, wurde fast von Windstoß mitgezogen, und wechselte zwischen der Karte, und dem sich vor ihm bietenden Anblick der Realität hin und her. Der Grashügel fiel auf der anderen Seite steil ab und mündete in den Ausläufern des friedlichen Torin-Walds. Der kleine Wanderweg, den sie soeben verlassen hatten, beschrieb einen Bogen um jenen Hügel und führte geradewegs hinein in eine lichte Ansammlung gesund anmutender Laubbäume, in deren Kronen vielerlei Vögel den Wettstreit um die schönsten Klänge ausfochten. Ihr Begrüßungsorchester zusammen mit dem Rauschen naheliegender Bäche genügten Tyrus zur besseren Entspannung. Die Bäume des Torin-Walds standen weit genug auseinander, dass das steil hineinfallende Sonnenlicht genügend Platz bekam, um den Waldboden in Dunkelheit spaltenden Lichtsäulen zu erreichen. Anders als in der Skrâl-Wildnis war Tyrus in der Lage viele hundert Fuß in den Wald hineinzublicken, bis die Sehschärfe in einem grünen Meer aus flüssig gewordenen Smaragden verschwand.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 31, 2015 ⏰

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