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„ 'Während ich verliebt war, war ich der glücklichste Mann auf dieser Welt; aber jemand, der kein Herz hat, kann auch nicht lieben, und so bin ich fest entschlossen, Oz um ein Herz zu bitten. [...]'". (Zitat, der Zauberer von Oz, Seite 87, auf IBook)

Ich starrte auf die gelblichen Seiten und deren verblasste Buchstaben. Vor meinen Augen sah ich den Blechmann, der vor Vogelscheuche und der kleinen Dorothy, ihren kleinen Hund Toto auf den Armen haltend, stand und ihnen seine endlos lange Geschichte erzählte. Ich konnte förmlich ihre Gefühle in mir spüren. Die Trauer des Blechmannes, über den Verlust seines Herzens; ich erkannte den enttäuschten Gesichtsausdruck der Vogelscheuche, die verzweifelt ihren Verstand suchte. Die selbe deprimierte Stimmung, wie die beiden fiktiven Charaktere in sich trugen, machte sich nun auch in mir breit. Und das, obwohl ich wusste, wie dieses alte Märchen ausging. Immerhin hatte ich dieses Buch schon dutzende Male gelesen, sodass ich mittlerweile fast Wort für Wort daraus zitieren konnte. Trotz dessen riss mich die Handlung des Zauberers von Oz bei jedem Male aufs neue mit sich. Jedes Mal laß ich Stunde für Stunde in den vertrauten Seiten des Bestsellers, den meine Großmutter mir nach ihrem Tod vermacht hatte. Ich schlug das zerfranste Buch vorsichtig zu und strich mit zwei Fingern langsam über den Einband. Er bestand aus einem hellgrünen Hintergrund, darauf prägte eine Illustration von dreien der Hauptpersonen. Links stand die junge Dorothy, in ein himmelblaues Kleid geworfen und die langen, braunen Haare in zwei Zöpfe herunter geflochten. Sie blickte auf den lächelnden Blechmann, der breitbeinig den Großteil des Bildes einnahm. Mit einer Hand auf dessen Schulter schaute die Vogelscheuche zu dem Blechgestell hinauf. Im Hintergrund deuteten Bäume und Büsche einen Wald an. Letzten Endes spiegelte diese Zeichnung jedoch nicht einmal ansatzweise die Stimmung und Situation der Geschichte wieder. Die drei Gefährten von Dorothy waren alles andere als glücklich, sie waren deprimiert; ihnen fehlte etwas. Dem einen ein Herz, dem nächsten der Verstand und der andere hatte keinen Mut. Auf ihrer Reise traf die kleine Dorothy, die bei einem Wirbelsturm mit samt ihrem Hündchen Toto in eine andere Welt katapultiert wurde, die drei Figuren. Zusammen suchten sie den legendären Zauberer von Oz auf, um sich alle etwas von ihm zu wünschen. Doch das, was sie glaubten, zu brauchen, fanden sie bereits auf ihrem gefährlichen Abenteuer; Herz, Verstand und Mut zeigten sich in den schwierigsten Situationen. Das erkannte auch der Zauberer, der sich als alter Greis herausstellte, und ganz und gar nicht die Kräfte eines Übernatürlichen besaß. Mit einem geschickten Trick bewies er es auch den drei verzweifelten Kreaturen. Mit einem liebevollen Herzen, scharfen Verstand und heldenhaften Mut waren die drei nun viel selbstbewusster. Und erst an diesem Punkt hätte die Illustration einen Sinn gefunden, ein Lächeln wäre hier nicht fehl am Platz gewesen.
Ich schüttelte meinen Kopf, um meinen unendlich umherreisenden Gedanken zu entkommen. Ich legte das Buch behutsam auf dem perfekt aufgeräumten Schreibtisch vor mir ab, dann lehnte ich in meinem Stuhl zurück und drehte mich mit ihm einmal herum. Ich sah mich um. Mein Zimmer war ordentlich, und zwar so ordentlich, dass es mir kaum jemand nach ahmen konnte. Alles was ich besaß, hatte einen festen Platz und nichts und niemand durfte einen einzigen dieser Gegenstände auch nur in kleinster Weise verrücken. Mein Lieblings Wort lautete Perfektion und diese spiegelte ich auch entsprechend wieder. Aber zurück zu meinem Zimmer: Es war nicht sonderlich riesig, aber es bot genug Platz für ein großes Doppelbett, eine kleine Couch und einen dazugehörigen Beistelltisch, meinen Schreibtisch, einige Regale und ein Schminktischchen. Letzteres war nicht oft in Gebrauch, ich setzte mich lediglich Morgens für einen kurzen Moment daran, um meine dunkelblonden Haare in einem Band auf meinem Kopf festzubinden und das ein oder andere Mal ein wenig Wimperntusche aufzutragen. Ich lächelte. Ich entsprach wahrscheinlich nicht den Vorstellungen eines normalen Mädchens, das in Chicago auf der Lincoln Park Highschool in einem Cheerleaderteam, fransige Pompongs in der Luft wedelnd, die Basketball Mannschaft der Lions anfeuerte. Aber genau das war es, was ich tat. Doch ich gleichte nicht den anderen Mädchen der Highschool. Fragte mich jemand, beschrieb ich mich als eine zurückhaltende, unauffällige Achtzehnjährige, die versuchte, im letzten Senior Jahr ihren Abschluss zu erreichen. Eigentlich so, wie jeder andere es in diesem Alter auch anstellen sollte. Aber jeder wusste, dass es kaum noch Jugendliche wie mich auf dieser Welt gab, die sich Nachmittags nach der Schule oder am Wochenende auf die Lehrbücher stürzten und eifrig lernten. Stattdessen verbrachten sie den Großteil ihrer Zeit damit, von Alkohol, Drogen und Zigaretten und anderen Dingen, die abhängig machten, kaum genug zu bekommen. Ich hatte es bis jetzt immer vermeiden können, mit so etwas meine Freizeit zu verschwenden. Wenn ich andererseits aber so darüber nachdachte, musste ich mir selbst eingestehen, dass es nicht zu einer intelligenteren Freizeitgestaltung zählte, unzählige Male das selbe Märchen zu studieren oder einzelne Gegenstände um einige Millimeter zurechtzurücken. Ich seufzte. Manchmal fühlte ich mich wirklich wie ein ziemlich hoffnungsloser Fall. Gäbe es da nicht meine beste Freundin Amelia, wäre ich wahrscheinlich einer der Außenseiter, die in den Schulstunden immer mit kleinen Papierkügelchen beworfen wurden. Aber Dank ihr, war ich Teil der Cheerleader und saß in den Mittagspausen immer an dem Tisch der beliebten Sportler. Auch, wenn ich dort nie viel zu den hirnlosen, oberflächlichen Gesprächen beitrug.
Amelia war ein hübsches, braun gebranntes Mädchen mit perfektem Beachbody. Wenn sie einen Raum betrat, schwangen ihre langen blonden Haare in Zeitlupe hin und her, während ihre eisblauen Augen im Licht glänzten. Im selbstsicheren Schritt stolzierte sie an all den Jungen vorbei, die sie dabei nur mit offenen Mündern anstarrten. Amelia war keine arrogante Zicke, für die sie jetzt alle halten würden; sie war einfach nur selbstbewusst in ihrem Auftreten. Also das komplette Gegenteil zu mir. In meinen XXL Size Pullis, in denen ich mich gerne mal wie eine kleine Schildkröte zurückzog, verwechselte man mich leicht mit der männlichen Spezies. Schlussfolgernd daraus, war es kein besonders großes Rätsel, warum ich bereits seit achtzehn Jahren mein Single Dasein genoss, während Amelia mir gerade zu jede Woche einen neuen Typen vorstellte, von dem sie beteuerte, er sei der Junge, der irgendwann einmal ihr liebender Ehemann sein würde. Einige Tage später bekam ich jedoch eine Nachricht, in der eine Welle aus Trauernden Emojis mein Handy Display überflutete. Daraufhin trafen wir uns dann jedes Mal im Ba-Ba-Reeba, um den Spezialeisbecher meiner Mum in uns hinein zu schaufeln. Man kann erahnen, dass das unserer Figur nicht sonderlich gut tat. Aber die Massen an Tränen, die an solchen Tagen vergossen wurden, mussten irgendwie ausgeglichen werden.
Das Ba-Ba-Reeba war ein von meiner Mum selbst eröffnetes Café, in dem ich ab und an mal jobbte, um ein bisschen mehr Geld in den Taschen zu haben. Ein halbes Jahr später, nachdem Mum und Dad sich getrennt hatten, zogen wir nach Chicago, um dort ein neues Leben zu beginnen. Mum mietete eine kleine Wohnung, meldete mich in der Lincoln Park Highschool an und kaufte von ihren letzten Ersparnissen die Räume ihres heutigen Cafés. Mein Dad dagegen blieb in Michigan und lebte nun ebenfalls in einem kleinen Apartment. Er hatte sich nie viel gemeldet. Gesehen hatte ich ihn nach dem Stadtwechsel auch nicht sonderlich oft, auch angerufen hatte er kaum, geschweige denn eine kleine SMS geschrieben.
Vier Jahre war all das nun her und trotzdem spürte ich immer wieder dieses schmerzliche Ziehen in meiner Brust. Anscheinend konnte ich diese Zeit einfach nicht hinter mir lassen.
Ich schüttelte mich. Ich wollte wirklich nicht mehr länger daran denken. Mit einem Ruck erhob ich mich aus meinem Stuhl und schlurfte auf mein Bett zu, auf dem mein Handy lag; das Display leuchtete in regelmäßigen Abständen kurz auf. Ich wusste bereits genau, was das bedeutete, bevor ich überhaupt genau nachsah. Mit einem leisen Seufzen ließ ich mich auf die weiche Matratze plumpsen, wobei ich aufpasste, die Bettdecke nicht zu sehr zu zerknittern, und griff nach meinem Handy. Doch ich kam kaum zum Entsperren des Geräts, da ploppte das Bild von Amelia mit ihrem frechen Grinsen im Gesicht auf und darunter sprangen mir der Grüne und der Rote Hörer ins Auge. Ich tippte auf das Display und hielt das Telefon hastig an mein Ohr, während ich mich langsam auf meinem Bett zurücklehnte. „Hey, was gib...", setzte ich an. Amelia fiel mir jedoch schluchzend ins Wort. „Verdammt Louisa, warum erreiche ich dich erst jetzt? Ich versuche es mindestens schon seit zehn Minuten." Das ist natürlich eine enorme Zeitspanne, Amelia. Ich öffnete meinen Mund, die Worte lagen mir bereits auf der Zunge und wollte gerade antworten, aber Amelia ließ es nicht soweit kommen. „Wie auch immer.", murmelte es in der Leitung und kurzzeitig herrschte Stille. Dann jedoch schien sie sich gesammelt und ihre Worte präzise gewählt zu haben. „Dieses Arschloch!" Eine Aussage, die ich des Öfteren bereits vernehmen durfte. Ich rückte den Bilderrahmen, in dem ein Bild von Mum und mir, in die Kamera lachend, thronte, auf meinem Nachtschränkchen zurecht. „Er hat einfach Schluss gemacht. Und wir waren so glücklich. Ich sehe das weiße Kleid mit der langen Schleppe, in dem ich, mal nebenbei gesagt, einfach fantastisch aussehe, schon vor mir, während ich mich im Spiegel betrachte. Manfred kommt herein und präsentiert mir seinen umwerfenden Anzug; wir würden unsere deutsche und amerikanische Kultur vereinen und..." Ich prustete los. Ich konnte mich vor lachen kaum noch halten und kullerte in meinem Bett hin und her; das Handy ließ ich aufs Kopfkissen fallen. „MANFRED!", schrie ich und fing wieder an zu lachen, bis mir sogar Tränen die Wangen hinunter liefen. „Louisa, hör auf zu lachen, komm wieder ans Telefon!", wies Amelia mich an. Ich kicherte noch ein wenig, dann griff ich wieder nach dem Telefon. „Du musst zugeben, bei einem solchen Namen hättest eher du dieses, was auch immer ihr hattet, beenden sollen." Ich atmete noch immer sehr flach. Auf einmal vernahm ich Amelias leises Schluchzen in der Leitung. „Ach komm schon, das ist Manfred doch nicht wert." Ich betonte den Namen noch einmal besonders, um ihr klar zu machen, dass es Jungen mit durchaus passenderen Namen auf dieser Welt gab. Sie schniefte noch einmal und seufzte dann. „Können wir uns im Reeba treffen?" Ich nickte erfreut, auch, wenn sie es nicht sehen konnte. „Ja, natürlich!", schob ich nach ,„soll ich dich abholen?" Während ich mein Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt hielt, stand ich auf und ging zu meinem Kleiderschrank, aus dem ich eine Jeansjacke angelte. Ich warf sie mir über, darauf bedacht, mein Handy nicht ausversehen fallen lassen. Dann ließ ich mich auf dem Hocker vor dem Spiegel meines Schminktischchens nieder. Ich nahm mein Handy wieder in die Hand und legte es auf dem weißen Tisch ab. Ich stellte den Anruf auf laut. „Amelia?", fragte ich, während ich nach einem Haarband griff und meine widerspenstige Mähne in einem Zopf zusammenfasste. „Soll ich dich abholen, ich kann gleich los fahren." Ich griff nach der Mascara, die in einer Schale mit anderen Schminkurtensilien lag. Ich schaute in den Spiegel und fokussierte meine bernsteinfarbenen Augen. Dann öffnete ich die Mascara und führte das Bürstchen vorsichtig an den oberen Wimpernkranz meines rechten Auges. Ich war noch nie besonders gut in dieser Mädchensache gewesen. „Sorry, ich musste kurz meiner Mum versichern, dass ich keinen Selbstmord begehe.", ertönte es plötzlich in der Leitung. Vor Schreck stach ich mir natürlich mit der Wimpernbürste direkt ins Auge. Ich schrie auf. Es brannte entsetzlich und die Tränen rannen bereits meine Wange hinunter. „Was ist los, Louisa? Muss ich den Krankenwagen zu dir rufen? Antworte doch!" Ich warf einen Blick in den Spiegel auf das mittlerweile gerötete Auge und stöhnte vor Schmerz. „Nein, mir geht es gut. Ich habe lediglich Wimperntusche im Auge." Ich hörte ein Kichern durch das leise Rauschen und ich konnte mich nun auch nicht mehr ernst nehmen. Ich lächelte mein Spiegelbild an. Es sah ein wenig verstörend aus, wie mein rechtes Auge komplett von Schwärze umgeben war. „Ich mache mich kurz frisch, dann warte ich draußen, okay?", informierte Amelia mich. Ich gab nur ein zustimmendes 'Hmh' von mir, während ich in einer Schublade, nach einem Abschminktuch kramte. Sie verabschiedete sich und legte dann auf. Ich wischte mir mit dem feuchten Tuch einige Male über das geschlossene Auge, bis es wieder komplett sauber war. Dann setzte ich erneut an, meinen Wimpern mehr Volumen zu verleihen. Nachdem die schwarze Farbe gleichmäßig und gerade zu perfekt auf meine Wimpern aufgetragen war, drehte ich die Bürste wieder auf die Farbtube und legte sie zurück in das Schälchen. Dann erhob ich mich, schob den Hocker unter den Tisch und sah mich in meinem Zimmer noch einmal um. Alles war ordentlich an seinem Platz, es gab nichts zu richten, außer -
Ich ging mit schnellen Schritten auf mein Bett zu und strich die Stelle glatt, auf der ich mich vorhin lachend gerekelt hatte. Ich nickte zufrieden, nahm mein Portemonnaie und meine Autoschlüssel vom Chouchtischchen und verließ mein Zimmer. Hinter mir schloss ich die Tür und fand mich im Flur wieder. Ich schaute in die Tür zu meiner Rechten und mein Blick fiel auf das umgemachte Bett meiner Mum. Kopfschüttelnd betrat ich ihr privates Reich und zog an den Enden ihrer Bettdecke, bis sie gerade und faltenfrei auf der Matratze lag. Ich wandte mich dem Kopfkissen zu und schüttelte es auf. Dann legte ich es vorsichtig in die Mitte des Kopfendes. Ich zog noch die Jalousien der Fenster etwas auf, sodass nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Sonnenlicht in den Raum fiel. Erleichtert verließ ich das Zimmer und zog die Tür zu. Ich schlurfte den Flur entlang bis zur Haustür und kniete mich auf den Boden, um in meine Converse zu schlüpfen. Ich band die Schnürsenkel zu perfekten Schleifen zusammen, richtete mich wieder auf und griff nach dem Türknauf. Ich blickte noch einmal über die Schulter, ob ich nicht doch noch etwas entdeckte, was erledigt werden musste und verließ dann das Apartment. Ich steckte den Schlüssel in den Mechanismus und drehte ihn zwei mal nach rechts. Dann wendete ich mich ab und glitt die Treppen des kahlen Treppenhauses hinunter. Ich verfolgte meinen Weg weiter durch den Haupteingang, wo ich noch einer älteren Dame die Tür aufhielt und huschte zum Parkplatz, auf dem mein kleines rotes Auto bereits auf mich wartete. Ich drückte auf das Entriegelungszeichen meiner Autoschlüssel und vernahm das vertraute Piepen und das Aufleuchten der Lichter. Ich setzte meinen Weg fort und öffnete die Fahrertür, warf mich auf den Sitz und zog die Tür wieder zu. Der vertraute Geruch meines Wagens drang in meine Nase. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und schleuderte sie auf den Rücksitz. Dann griff ich nach dem Sicherheitsgurt, schlang ihn um meinen Körper und steckte das Ende in den Anschnaller, bis es klickte. Ein Blick in den Rückspiegel verriet mir, dass dieser nicht präzise ausgerichtet war, was ich nun schnell nachholte. Ich schaltete das Radio an und sofort ertönte einer der Songs aus den Charts, der mir so gut gefiel, dass ich mit den Fingern eine Weile auf dem Lenkrad herum trommelte. Mich wieder gefangen, führte ich den Schlüssel ins Zündschloss und das Rattern des Motors erklang. Ich schaute wieder in den Rückspiegel, setzte dann den Rückwärtsgang ein und schlug aus der Parklücke. Dann fuhr ich laut summend vom Platz.

Even Perfection isn't PerfectWo Geschichten leben. Entdecke jetzt